Kommt gut mit Krisensituationen klar. Geht Problemen nicht aus dem Weg. Zielstrebig. Beharrlich. Von derartigen Charakterisierungen wimmelte es nur so in Štěpán Chytils Arbeitszeugnissen. Im Prinzip pflichtete er ihnen bei. Er besaß die Eigenschaften eines ausdauernden zweikeimblättrigen Unkrauts. Er war unverwüstlich wie Klee. Auch ein kalter Tag, der nach Auspuffgasen und dicht am Boden verharrendem Rauch stank, ein außerordentlich scheußlicher Märzmontag ohne die geringste Aussicht auf Sonne, konnte den stellvertretenden Direktor des Amts für Ein- und Ausfuhrkontrolle und EU-Parlamentskandidaten (verheiratet, Vater eines gerade volljährigen Sohnes, schütter werdendes Haupthaar, leicht erhöhter Cholesterinspiegel) nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Seit dem Morgen hatte er Halsschmerzen und alles, was er berührte, wirkte provozierend schleimig, als wäre die Welt mit dem Sperma eines starken feindlichen Männchens bedeckt. Trotz alledem wurde er die Überzeugung nicht los, dass die irdische Existenz das Beste war, was der Kosmos zu bieten hatte. Die Existenz als privilegiertes menschliches Wesen. So ein Wesen war Štěpán, und mit seinen vierundfünfzig Jahren hatte er nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass sich irgendetwas verändern würde.
Als Ökonom kannte er natürlich das Pareto-Prinzip und wandte es erfolgreich in seinem Beruf an. Er war in der Lage zu berechnen, welche Menge an Energie er in was investieren musste und welche Zinsen ihm das einbrächte. Nie hatte er sich die Frage gestellt, ob die 80-zu-20-Regel auch außerhalb der Arbeit galt. Die Behauptung, dass 80 % der Folgen auf 20 % der Ursachen beruhen, und zwar auf allen Ebenen menschlichen Handelns, hätte er als nicht verifizierbare Theorie abgelehnt. Sich mit solchen Gedankenkonstrukten zu befassen, hielt er für überflüssig. An der Vergangenheit ließ sich nichts mehr ändern. Man konnte sie nicht ungeschehen machen und auch nicht wieder in sie zurückkehren. Die Ursachen waren bereits entstanden. Sie waren fest in Štěpáns Schicksal verkeilt und er, versunken im Rücksitz eines Wahlkampf-Vans der ČMD, der Tschechisch-Mährischen Demokraten, rückte auf der Zeitachse in Richtung der logischen Folgen vor. Langsam, aber unaufhaltsam.
„Wohin?“, fragte der Chauffeur.
„In die Zentrale“, schlug Milada Pecková vor.
„Da wird keiner sein“, vermutete Libor Fára. „Fahr direkt zum Vereinshaus.“
Štěpán sah auf die Uhr: halb eins. Znojmo – Qualitätsstadt mit Prädikat, verkündete das schlammbespritzte Ortseingangsschild, das sie gerade passierten. Es fiel Schneeregen, auf der Fahrbahn hatte sich Glatteis gebildet. Nach dem warmen Februar war der Rückfall in den Winter ärgerlich, aber Štěpán hatte keine Zeit, darauf zu achten. Er konzentrierte sich voll auf seinen Wahlkampf. Die Tour durch Mähren war ein wichtiger Teil davon. Die morgendliche Veranstaltung am Gymnasium in Humpolec hatte in inspirierender Atmosphäre stattgefunden, das Schulorchester hatte die Ode an die Freude gespielt und die zahlreichen Fragen ließen vermuten, dass die Schüler um gute Noten in Gesellschaftskunde kämpften. Viele von ihnen – höchstwahrscheinlich aus dem Abschlussjahrgang – hatten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Fokus, insbesondere die Meinungsfreiheit. Sie wollten wissen, woher Štěpán seine Informationen bezog, was er von Online-Medien und von Bloggern hielt. Sie testeten, ob er bestimmte Namen und Portale kannte. Natürlich kam die Sprache auch auf Geworg Arojan und sein tragisches Ende. Die Studenten verglichen ihn mit dem ein Jahr zuvor ermordeten slowakischen Journalisten Ján Kuciak und fragten Štěpán, ob die beiden seiner Meinung nach dafür zahlen mussten, dass sie keine Angst gehabt hatten, die Wahrheit zu schreiben. Auch Štěpáns Ansichten zur Selbstzensur interessierte sie.
Er antwortete wohlüberlegt. Wies sie auf die Fallstricke der Freiheit im Internet hin und auf die Wichtigkeit einer journalistischen Ethik. Erläuterte ihnen, dass die sogenannte Selbstzensur manchmal auch ein Bemühen um Objektivität sein konnte. Als sie ihn fragten, wie er sich mit seinem Sohn verstünde, versicherte er, dass sie ein gutes Verhältnis hätten. Er verriet ihnen, dass er mit Richard oft diskutiere und in regem Meinungsaustausch stehe. Dass sie vor ein paar Tagen ein paar Ohrfeigen ausgetauscht hatten, darüber schwieg er vernünftigerweise.
Die anschließende Versammlung in der Stadtbibliothek war vom Klub aktiver Senioren organisiert worden, der Altersdurchschnitt im Publikum bewegte sich um die achtzig Jahre und die Konzentrationsfähigkeit war dementsprechend. Viele Augenpaare, in die Štěpán von seinem Rednerpult aus schaute, schlossen sich im Verlauf seines Auftritts. Hier und da war auch ein Schnarchen zu hören. Das war auch an den vorausgegangenen Tagen in Jihlava, Třebíč und Kounice nicht anders gewesen. Der älteren Generation wurde bei Wahlen eminente Wichtigkeit beigemessen, sie machte ein Viertel aller Wahlberechtigten im Land aus. Pecková und Fára hatten vom ČMD-Wahlkampfmanager die Anweisung bekommen, sich bei den Veranstaltungen für die Silver Ager besonders große Mühe zu geben, aber Štěpán wurde den Eindruck nicht los, dass das EU-Parlament eine Institution war, die den Denkmustern mährischer Greisinnen und Greise zuwiderlief. Der Hauptgrund, aus dem sie die Wahlkampfveranstaltungen in großer Zahl besuchten, war der Imbiss, der zum Schluss gereicht wurde und ihren Schlummer wie von Zauberhand vertrieb.
Hier in Znojmo würde sich die Reihe schläfriger Kaffeekränzchen nicht fortsetzen, das war Štěpán klar. Der Vorsitzende des ČMD-Ortsvereins hatte am Telefon geprahlt, dass der große Saal im Vereinshaus nicht nur voll sein werde, sondern dass auch eine hitzige Debatte auf dem Programm stehe. „Das wird für Sie kein Kinderspiel, Herr Ingenieur. Es kommen ein paar Lokalgrößen, die kein Geheimnis aus ihren dezidierten Ansichten über die Politik aus Brüssel machen. Die treiben Sie in die Enge, damit müssen Sie rechnen“, hatte er ihn gewarnt.
Vor dezidierten Ansichten hatte Štěpán keine Angst, was ihm Sorgen bereitete, war der Zustand seiner Stimmbänder. Nach einer nicht auskurierten Entzündung und einem Dutzend Versammlungen spürte er ein schmerzhaftes Spannen im Rachen und erste Anzeichen von Heiserkeit. Sein Gegenmittel war, dass er bei seinen Auftritten die Mikrofone vom Tontechniker auf volle Lautstärke aussteuern ließ, aber das Kratzen im Hals wurde immer schlimmer, und sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Wahlkampftour absolviert. Ostrava, Zlín, Olomouc und weitere mährische Städte erwarteten sie erst noch. Štěpán hatte für jede Station eine maßgeschneiderte Rede ausgearbeitet. Er konnte noch nicht wissen, dass er die meisten seiner Ansprachen, die ihn viele Stunden Arbeit gekostet hatten, nie halten würde und dass die Gründe dafür viel gravierender wären als überanstrengte Stimmbänder.
„Vor einer Woche hat sie eine Versammlung im Großen Saal in der Lucerna gehabt.“ Fára zeigte auf eins der Konkurrenzplakate, die die Ortsumfahrung von Znojmo säumten. Zora Opasková – DIE STIMME, auf die Europa hört, verkündete ein Schriftzug unter dem Kinn einer jungen Frau. Die war nicht nur gutaussehend, sondern ihrem Gesicht war auch erkennbar Intelligenz eingeschrieben. Laut Wahlforschung fand sie vor allem in Städten Rückhalt, unter eher jungen Menschen mit höherer Bildung.
„Ich war sie mir anhören“, redete Fára weiter. „Eine Stimme hat sie, das muss man ihr lassen. Sie hat über den ganzen Saal hinweggeschrien. Ohne Mikro.“
„Sie kann ziemlich sarkastisch sein. Habt ihr gehört, was sie verkündet hat?“ Pecková drehte sich auf dem Vordersitz um, ein amüsiertes Funkeln in den Augen. „Wenn schon Genderquoten, dann für Männer. Von denen würden dadurch viele endlich eine Chance kriegen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt auch mal zum Zug kommen. Hat die Opasková gesagt.“
„Wenn ich ’ne Frau wäre, würde ich mich von solchen Quoten beleidigt fühlen“, verkündete der Chauffeur.
„Biste aber nicht, also“, stauchte Pecková ihn zusammen. Sie pflegte zu ihm ein kameradschaftlich-unmittelbares Verhältnis, genauso wie Fára. Štěpán blieb lieber etwas auf Abstand. Er kandidierte fürs EU-Parlament mit Unterstützung der Tschechisch-Mährischen Demokraten, war aber kein Parteimitglied. Pecková und Fára hatten ihn zwar so weit gebracht, dass sie sich inzwischen duzten, aber damit war’s für ihn dann auch vorbei mit den Vertraulichkeiten. Während er die Karriereleiter hinaufgeklettert war, hatte er sich ein zuverlässiges Gespür für den Umgang mit Kollegen erarbeitet. Beim Amt für Ein-