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Sechstes Kapitel – Die große Polarströmung
Bald ließen sich zahlreichere Scharen von Vögeln, Sturmvögel und andere Bewohner dieser öden Gegenden sehen, woraus man die Nähe Grönlands erkannte. Der Forward fuhr rasch nordwärts.
Am Dienstag, den 17. April, gegen elf Uhr vormittags, meldete der Eismeister das erste Erscheinen des Eis-Blink, welches sich mindestens zwanzig Meilen in Nord-Nord-West zeigte. Es war ein blendend weißer Streifen, welcher trotz dichten Gewölkes den ganzen benachbarten Teil der Atmosphäre lebhaft erhellte. Die Leute von Erfahrung an Bord konnten über die Erscheinung keinen Zweifel haben, und sie erkannten an dem weißen Schein, dass dieser Blink von einem ausgedehnten Eisfeld dreißig Meilen über dem Gesichtskreis hinauskommen musste und durch Brechung der Lichtstrahlen entstand.
Gegen Abend schlug der Wind südlich um und war günstig; Shandon konnte tüchtig Segel aufspannen und ließ aus Sparsamkeit die Heizung aufhören. Der Forward fuhr mit vollen Segeln dem Kap Farewell zu.
Am 18. um drei Uhr ließ sich an einem weißen, nicht eben dichten, aber glänzenden Streifen, der lebhaft zwischen den Linien des Meeres und Himmels abstach, ein Eisstrom erkennen. Er trieb offenbar vielmehr von der Ostküste Grönlands her, als von der Davis-Straße, denn die Eisblöcke ziehen sich vorzugsweise an den Westrand des Baffins-Meeres. Eine Stunde nachher fuhr der Forward mitten durch abgesonderte Blöcke des Eisstroms, und da, wo sie am meisten zusammenhingen, folgten sie der Wellenbewegung.
Am folgenden Morgen, bei Tagesanbruch, meldete die Wache ein Schiff: Es war eine dänische Korvette, Walküre, welche in entgegengesetzter Richtung der Forward der Bank von New-Foundland zufuhr. Die Strömung von der Straße her machte sich schon fühlbar, und Shandon musste die Segel verstärken, um dagegen zu steuern.
Damals befanden sich der Kommandant, der Doktor, James Wall und Johnson beisammen auf dem Hinterdeck, um die Richtung und Kraft dieser Strömung zu untersuchen. Der Doktor fragte, ob wirklich diese Strömung gleichmäßig im Baffins-Meer existiere.
»Allerdings«, erwiderte Shandon, »und die Segelschiffe können nur mit Mühe dem Polarstrom entgegensteuern.«
»Umso mehr«, fügte James Wall bei, »als man ihn ebensowohl auf der Ostküste Amerikas als auf der Westküste Grönlands findet.«
»Nun«, sagte der Doktor, »das gibt den Aufsuchern der nordwestlichen Durchfahrt einen besonderen Grund! Dieser Strom fließt mit einer Schnelligkeit von etwa fünf Meilen die Stunde, und es ist schwerlich vorauszusetzen, dass er im Innern des Golfs entsteht.«
»Dies ist umso richtiger, Doktor«, fuhr Shandon fort, »als man gleich dieser Strömung von Norden nach Süden eine entgegengesetzte von Süden nach Norden in der Behrings-Straße findet, welche den Ursprung dieser bildet.«
»Demnach, meine Herren«, sagte der Doktor, »muss man zugeben, dass Amerika völlig von den Polarlanden losgetrennt ist, und dass die Gewässer des Stillen Meeres um diese Küsten herum bis ins Atlantische fließen. Übrigens ergibt sich auch aus dem höheren Niveau der Gewässer des ersteren noch ein Grund für deren Abfluss in die Meere Europas.«
»Aber«, fuhr Shandon fort, »es muss doch Gründe für diese Theorie geben, und wenn das der Fall ist, muss unser Universal-Gelehrter sie kennen.«
»Wahrhaftig«, versetzte letzterer mit liebenswürdiger Befriedigung, »wenn dies Sie interessieren kann, so will ich Ihnen sagen, dass Walfische, die in der Davis-Straße verwundet wurden, einige Zeit nachher in der Nähe der Tartarei1 noch mit der europäischen Harpune im Leibe gefangen wurden.«
»Wofern sie also nicht ums Kap Horn oder um das der guten Hoffnung gefahren sind«, erwiderte Shandon, »so müssen sie notwendig ihren Weg um die Nordküste Amerikas herum genommen haben. Das ist unbestreitbar, Doktor.«
»Wenn Sie jedoch nicht überzeugt wären, mein wackerer Shandon«, sagte der Doktor lachend, »so könnte ich noch andere Tatsachen vorbringen, z. B. das in der Davis-Straße flößende Holz, Lärchen, Zitterespen und andere Produkte der tropischen Zone. Nun wissen wir, dass des Golfstromes wegen dieses Holz nicht in die Enge hineintreiben kann; wenn sie also aus demselben heraustreiben, so konnten sie nur durch die Behrings-Straße in denselben hineinkommen.«
»Ich bin überzeugt, Doktor, und gestehe, dass man bei Ihren Beweisen schwerlich ungläubig bleiben kann«.
»Meiner Treu!« sagte Johnson. »Da kommt just etwas, was die Sache klarmachen kann. Ich sehe da draußen ein hübsch großes Stück Holz. Mit Erlaubnis des Kommandanten wollen wir den Baumstamm auffischen, an Bord ziehen und um sein Heimatland befragen.«
»Ganz recht«, sagte der Doktor, »das Beispiel nach der Regel.«
Shandon gab den Befehl dazu; die Brigg fuhr auf das wahrgenommene Holz, und bald darauf zog es die Mannschaft mit einiger Mühe an Bord.
Es war ein Acajoustamm, der vom Gewürm bis in den Kern zerfressen war, sonst hätte er nicht obenauf schwimmen können.
»Das ist ja überführend«, rief der Doktor freudig, »denn da die Strömungen des Atlantischen Ozeans denselben nicht haben in die Davis-Straße treiben können, weil er nicht durch nordamerikanische Flüsse in das Polarbecken getrieben werden konnte, da der Baum in der Gegend des Äquators wächst, so ist es klar, dass er direkt aus der Behrings-Straße kommt. Und sehen Sie, meine Herren, dies Meergewürm, von dem es durchfressen wurde, es gehört zu den Gattungen der heißen Zone.«
»Offenbar«, versetzte Wall, »haben die Widersacher der Durchfahrt unrecht.«
»Mit diesem da sind sie gänzlich geschlagen!« erwiderte der Doktor. »Geben Sie acht, ich will Ihnen den Weg beschreiben, welchen dieses Acajouholz gemacht hat. Es ist durch einen Fluss des Isthmus2 von Panama oder aus Guatemala in den Stillen