Der dritte, wiederum mit aussagekräftigen Fotos ausgestattete Band, der über den Hofsänger und Gastwirt Joseph Leoni, hinterlässt einen eher zwiespältigen Eindruck. Die Geschichte dieses Musikus aus Palermo, der am Münchner Hof nur mäßig erfolgreich war und stets im Schatten seiner Frau Marianna Schmaus stand, ist auf jeden Fall der Darstellung wert. Für die an Münchner Stadtgeschichte Interessierten schon allein deshalb, weil man von einem einst unweit des Hofbräuhauses gelegenen »Leoni-Weiher« bisher recht selten gehört hat, und natürlich auch, weil die aus eher spärlichen Quellen gearbeitete Studie des Musikwissenschaftlers Christian Lehmann eine Fülle von Einblicken in das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Stadt in der Goethe-, Napoleon- und Biedermeierzeit bietet.
Mit seinem Freund, dem Staatsrat Franz von Krenner, fuhr Joseph Leoni immer mal wieder nach Assenbuch am Starnberger See, wo Krenner einen Obstgarten erworben hatte – und dieses idyllische Fischernest wird bald dafür sorgen, dass der Name »Leoni« bis heute bekannt ist. Denn 1824, nach dem Tod seiner Frau, kommt der Sänger zu Geld; im Jahr darauf heiratet er die Schuhmachertochter Rosina Oehler, kauft das Assenbucher Seegrundstück, baut dort ein »ländliches Lusthaus« und erhält das »Tafernrecht«. Das ist der Anfang einer späten Karriere – »Leonihausen«, wie der Ort bald genannt wird, entwickelt sich zu einem beliebten Ausflugslokal, das nicht nur prominente Maler wie Cornelius, Overbeck, Kaulbach oder Rottmann anzieht, sondern auch durch einen Besuch König Ludwigs I. geadelt wird. Joseph Leoni stirbt Ende 1834, Rosina führt das Wirtshaus bis 1861 weiter – da redet niemand mehr von Assenbuch, denn der Ort samt Schiffsanlegestelle heißt nun Leoni, und so heißt er bis heute. Eine Wahnsinnsgeschichte eigentlich!
Christian Lehmann breitet sie in wirklich allen Einzelheiten aus, und das macht sein Buch vor allem im ersten Teil etwas langatmig – dass er »prima erzählen« kann, wie der SZ-Rezensent behauptet, wird man nicht unbedingt unterschreiben wollen. Sicher ist, dass ein wenig Komprimieren der Lesbarkeit nicht geschadet hätte. Dennoch wird man den erhellenden Recherchen des verdienstvollen Autors seinen Respekt nicht versagen – und außerdem macht Joseph Leoni. Ein Italiener am Starnberger See dem Reihentitel alle Ehre.
Man darf gespannt sein, wie es mit Vergessenes Bayern weitergeht. So einleuchtend es ist, dass sich die Herausgeber thematisch nicht einschränken oder gar festlegen möchten – aufpassen müssen sie schon, damit sich ihre Buchreihe nicht allzu heterogen und damit auch ein wenig beliebig gestaltet. Bestimmt werden sie auch im Auge behalten, dass »Bayern« doch wesentlich größer ist als Alt- oder gar nur Oberbayern. Nach drei Bänden lässt sich noch nichts Definitives sagen – unverwechselbare Konturen, also ein »Gesicht«, hat Vergessenes Bayern noch nicht. Aber das kann sich schnell ändern.
Ingvild Richardsen: Die Fraueninsel. Auf den Spuren der vergessenen Künstlerinnen von Frauenchiemsee. München 2017: Volk Verlag. 362 S.
Kristina Kargl / Waldemar Fromm (Hrsg.): Die Kehrseite des deutschen Wunders. Franziska von Reventlow und der Erste Weltkrieg. München 2018: Volk Verlag. 174 S.
Christian Lehmann: Joseph Leoni. Ein Italiener am Starnberger See. München 2018: Volk Verlag. 240 S.
Lustig ist das alles nicht. Über Anna Croissant-Rust
Ob ich eigentlich die Anna Croissant-Rust kenne, hat mich Bernhard Setzwein einmal gefragt. Ich kannte sie nicht. Das war vor einem Vierteljahrhundert, kurz bevor sein wunderbares Buch Käuze, Ketzer, Komödianten erschien, mit elf Aufsätzen über Literaten in Bayern, unter ihnen ein Porträt dieser »bayerisch-pfälzischen Erzählerin«. In seinem prägnanten und einfühlsamen Essay – Setzwein hat ihm den Titel Naturalistin im Biedermeierhäuschen gegeben – steht schon alles drin, was man über diese 1860 in Bad Dürkheim geborene, in Amberg und München aufgewachsene, vor allem zwischen 1893 und 1914 durchaus namhafte und mit einigen Texten sogar recht erfolgreiche Schriftstellerin wissen könnte. Dass ihr äußerst vielfältiges und umfangreiches Werk – Anna Croissant-Rust wurde fast dreiundachtzig Jahre alt – heute nahezu unbekannt ist, haben diverse Wiederbelebungsversuche, zum Beispiel der von Heinz Puknus in der Verlagsanstalt Bayerland, nicht verhindern können. Ob das ein Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg anders werden könnte? In einem verdienstvollen Lesebuch mit exemplarischen Prosatexten bayerischer Schriftstellerinnen ist sie mit der eindrucksvollen, 1896 erstmals publizierten Erzählung Kirchweih vertreten. Nicht nur ihr düsteres Thema – Armut, Krankheit, Verzweiflung, schließlich ein totes Kind – mag nicht jedermanns Sache sein, sondern auch ihre höchst expressive Stakkatosprache: »Nach! nach! – Jetzt! – Endlich! Sie halten an, starren … Sie stößt das junge Mädchen zur Seite, stürzt auf ihn, hoch hält sie das Kind. – ›Du! – – du!‹ – – Schrill, vergurgelnd.« Das war auch um 1900 harte Kost, literarisch gewiss innovativ, für die meisten Leser aber doch zu ungewöhnlich.
Das Elend der Welt, besonders die haarsträubenden Lebensumstände von Frauen aus der Unterschicht, die oft nicht wissen, wie sie sich und ihre kleinen Kinder durchbringen sollen, hat Anna Croissant-Rust zeitlebens tief bewegt. Lustig ist das alles nicht. Das muss man aushalten als Leser von heute, denn sonst wird man den von Edda Ziegler nach dem Text der Erstausgabe von 1914 neu herausgegebenen Erzählzyklus Der Tod erst gar nicht in die Hand nehmen wollen. In diesen siebzehn Prosatexten von maximal je drei Seiten Umfang, die durch siebzehn meisterliche Zeichnungen des berühmten Willi Geiger (1878–1971) eher aufgeschlossen als nur illustriert werden, sind großartige Entdeckungen zu machen. Bilderreiche, ausdrucksstarke expressionistische Dichtung ist das, die mit den weithin bekannten Prosastücken der großen zeitgenössischen Wortkünstler spielend mithalten kann. Im Zentrum dieser tief bewegenden Prosaskizzen steht natürlich, vielfach variiert, eine alle Träume, Wünsche oder Erinnerungen der grundsätzlich sozial deklassierten Protagonisten am Ende unweigerlich bezwingende Gestalt – der Tod. Dass diese Geschichten so faszinierend sind, hat vor allem, wie die Herausgeberin ganz zu Recht betont, mit der »metaphorisch aufgeladenen Sprache einer belebten, vermenschlichten Natur« zu tun: »Der Föhn stöhnt«, »ein blasser Mond stürmt«. Oder der erste Satz von Frühlicht: »Grauweißer Schnee zergeht in den Straßen, fällt faul vom Nachthimmel und klebt sich an die Fenster der Kellerwohnung.« Klar: Wer mag sich ausgerechnet den Tod aufs Nachtkästchen legen? Wenige wahrscheinlich. Die anderen aber haben was versäumt.
Anna Croissant-Rust: Der Tod. Ein Zyklus von siebzehn Bildern mit siebzehn Zeichnungen von Willi Geiger. Hrsg. und mit einem Nachwort von Edda Ziegler. München 2014: Allitera Verlag. 91 S.
Dietlind Pedarnig / Edda Ziegler (Hg.): Bayerische Schriftstellerinnen. Ein Lesebuch. München 2013: Allitera Verlag. 235 S.
Bernhard Setzwein: Käuze, Ketzer, Komödianten. Literaten in Bayern. Pfaffenhofen an der Ilm 1990: W. Ludwig Buchverlag. 299 S.
Von wegen gute alte Zeit. Vor hundert Jahren ging Lena Christ in den Tod
Geldsorgen begleiteten