In der übersichtlichen, einleuchtend strukturierten und nicht nur der Hörproben wegen angenehm besucherfreundlichen Ausstellung wird man natürlich erst einmal mit Steubs Geburtsstadt bekannt gemacht, »einem freundlichen Städtchen in der Nähe des Stammschlosses Wittelsbach, mit vielen Brauereien und wenigstens einer Schule«, wie er in seiner 1883 entstandenen Autobiografie schreibt. Ludwig Steubs Vater Andreas amtete dort als Königlich Bayerischer Distriktsstiftungsadministrator, eine Stelle, die mit Verkündigung der neuen Verfassung (1818) überflüssig wurde – 1822 wird er nach Augsburg versetzt, ein Jahr danach nach München. An seine nicht gerade unter rosigen Umständen verbrachte Aichacher Kindheit hat der spätere Schriftsteller fast nur positive Erinnerungen, die ins erste Kapitel seines einzigen Romans Deutsche Träume (1858) hineinverwoben sind – ein Buch, das wie nahezu alles von Steub nur noch antiquarisch aufzutreiben ist. Während seiner Schulzeit am »Alten Gymnasium« in München entwickelt Ludwig Steub eine Vorliebe für Sprachen, und er unternimmt seine ersten größeren Reisen und Wanderungen. Er studiert zunächst Klassische Philologie, später dann das ungeliebte, aber eine Anstellung versprechende Fach Jura. Sein Lehrer Friedrich Thiersch hatte seine Begeisterung für alles Griechische geweckt. 1834 geht Steub als Regentschaftssekretär des Grafen Armansperg ins bayerisch regierte Griechenland – und kehrt zwei Jahre später ernüchtert zurück. Über diese kurze, aber nicht unwichtige Episode seines Lebens, die sein erstes Buch Bilder aus Griechenland (1841) entscheidend inspiriert hat, erfährt der Ausstellungsbesucher alles Wissenswerte. Ludwig Steub, der – auch eine Kunst – sein Engagement für den ungeliebten Brotberuf zeitlebens auf das gerade noch tolerierbare Minimum beschränken konnte, war mit seinen Zeitungsartikeln wesentlich erfolgreicher als mit seinen Büchern. Sogar seine erste Novelle Der Staatsdienstaspirant (1841) erschien zuerst im Stuttgarter Morgenblatt. Den Sammelband Novellen und Schilderungen (1853), der auch die bis ins spätere 20. Jahrhundert immer mal wieder publizierte Novelle Trompete in Es (1848) enthält, mag fast niemand kaufen. Es ist nicht nur erstaunlich, wie viele seiner im Handel schon lange nicht mehr erhältlichen Bücher die Aichacher zusammengetragen haben – noch erstaunlicher ist, dass der Ausstellungsbesucher, wenn er das mag, sie alle in die Hand nehmen und stundenlang in ihnen schmökern kann. Ein Dichter zum Anfassen, wie es heute so schön heißt – gut so!
Auf seiner ersten Tirolreise im Sommer 1842 kommt der Reiseschriftsteller und Kulturanthropologe Ludwig Steub ans Licht, und bald geht es steil aufwärts mit seiner Beliebtheit beim lesenden Publikum. Hinaus aus der Stadt, hinein in die Alpen – jahrelang war das sein Motto, und auf diesem zentralen Teil seines Lebens und Wirkens liegt auch der Schwerpunkt der Aichacher Schau, die dazu überraschend viel Material präsentiert. Die Stadt Brixlegg im Tiroler Inntal, über der 1898 ein in die Felswand gemeißeltes riesiges Reliefbild des Dichters enthüllt wurde, ist bis heute eine der Partnerstädte Aichachs, und im berühmten Berggasthof »Tatzlwurm« zwischen Bayrischzell und Brannenburg am Inn erinnert man immer noch an Ludwig Steub. Dass er keineswegs ein früher Tourist und Gipfelstürmer war, sondern immer die Menschen im Mittelpunkt seines lebhaften Interesses standen, ihre Dörfer und Städte und ganz besonders ihre Wirtshäuser, betont Gerald Deckart in der erwähnten Broschüre: »Die Landschaft war ihm nur wichtig als schöne, liebliche, heitere Umgebung der Wohnplätze der Menschen, als Szenerie, in der sich das menschliche Leben abspielt.« Und ein früher Kritiker des für heutige Verhältnisse äußerst zaghaft beginnenden Alpintourismus war der liberale, manchmal heftig antiklerikale und sogar antidynastische Dichter auch. »Es sind schon genug herinnen«, sagt Steub in der Rolle eines Brixlegger Sommerfrischlers. »Es wäre wirklich jammerschade, wenn auch dieser stille Winkel durch übergroßen Zulauf, Vornehmheit, Equipagen, Lakaien, Toilettenpracht und andere Widerlichkeiten beliebter Sommerfrischörter wieder unzugänglich würde.«
Ludwig Steub, der poetische Wanderer zwischen München und dem Gardasee, bleibt natürlich ein Mann des 19. Jahrhunderts, und deshalb empfindet man heute einiges in seinen Werken als veraltet – die allzu gemütvoll schwärmerische Umständlichkeit seiner Schilderungen und die Beifall heischende Blumigkeit seines Stils können durchaus auch mal nerven. Ist das bei Stifter völlig anders? Sind Hebbels Erzählungen noch guten Gewissens zu empfehlen? Ludwig Schrott meinte vor fünfzig Jahren, dass Ludwig Steubs poetische Reiseschriften, meist lange vor Theodor Fontanes berühmten Wanderungen durch die Mark Brandenburg entstanden, locker deren Niveau erreichten. Darüber kann man streiten. Nicht streiten kann man über die Forderung an die (bayerischen?) Verleger, endlich eine leserfreundliche Werkausgabe in Angriff zu nehmen. Und ebenso wenig kann man darüber streiten, dass ein Besuch des Stadtmuseums Aichach und seiner aktuellen Sonderausstellung ein herzerwärmender Gewinn ist. Auch ohne das unbewachte Almenherz der Almerin.
Ludwig Steub – Sohn der Stadt. Eine Spurensuche. Ausstellung 2012/13 im Stadtmuseum Aichach.
Vergessenes Bayern
Die von Ingvild Richardsen und Waldemar Fromm im Münchner Volk Verlag herausgegebene Buchreihe Vergessenes Bayern möchte »wenig bekannte oder gänzlich unbekannte Seiten der Kulturgeschichte Bayerns« zeigen, weshalb sie von vornherein ein weites Herz haben muss: »Interessante Persönlichkeiten, einmalige Ereignisse und faszinierende Entwicklungen haben darin ebenso ihren Platz wie vergessene Texte oder Chroniken, einstige Bräuche oder alte Rezepte und Esstraditionen … Das Themenspektrum umfasst vergessene Künstlerinnen und Künstler, Schriftsteller, Poeten, Satiriker, Musiker, Maler und Architekten. Erfinder haben ebenso ihren Auftritt wie Juristen, Herrscher und Politiker, Auswanderer, die Bayern in die Welt hinausgetragen haben, Freigeister und Universaltalente.« Wow! Eine beeindruckende Ansage!
Vor zwei Jahren, 2017, erschien der erste Band – Ingvild Richardsen wandelte Auf den Spuren der vergessenen Künstlerinnen von Frauenchiemsee (Untertitel) und legte ein umfangreiches, mit eindrucksvollen Fotos attraktiv ausgestattetes Buch mit dem Titel Die Fraueninsel vor. Dass es Dichter und Maler seit Anfang des 19. Jahrhunderts auf die kleine Insel mit ihrer uralten Geschichte zog, ist bekannt – doch dass gleich mehrere bis heute interessante Schriftstellerinnen und Frauenrechtlerinnen zur dortigen Künstlerkolonie gehörten, stand nie im Vordergrund und ist inzwischen fast vergessen. Warum das so ist und weshalb das nicht so bleiben sollte, erläutert die Autorin in ihrer konzisen Einleitung – und noch einmal im Epilog. Dazwischen geht es um Leben und Werk von Emma Haushofer-Merk (1854–1925), Carry Brachvogel (1864–1942), Marie Haushofer (1871–1940) und Eva Gräfin von Baudissin (1868–1943). Ingvild Richardsen führt behutsam hin zu den von ihr mit Bedacht ausgewählten Novellen, Versen und Essays, die die immer besondere Atmosphäre der Fraueninsel umspielen und neue Blicke auf vier für ihre Zeit ungewöhnlich moderne, also auch politisch engagierte Künstlerinnen ermöglichen. Und sie so dem Vergessen entreißen. Dass sie, wie Ingvild Richardsen nicht zum ersten Mal betont, als Autorinnen »ersten Ranges« angesehen werden müssten, wird man allerdings nicht unbedingt unterschreiben wollen.
Der zweite Band gilt einer Frau, die mit Sicherheit nicht vergessen ist – ihre Bezeichnung »Wahnmoching« für das Bohème-Schwabing vor 1914 kennt jeder, und auch als Autorin und nonkonformistische Lebens- und Liebeskünstlerin ist Fanny von Reventlow keine Unbekannte. Ob sie als Schriftstellerin wirklich bedeutend ist? Als mutige Frau, energische Mutter und engagierte Zeitgenossin jedenfalls ist sie das, und wer’s nicht glaubt, der lese ihren ohne literarische Spielereien auskommenden Bericht Die Kehrseite des deutschen Wunders, der in Wirklichkeit ein authentischer, traurig düsterer, entschieden antibellizistischer Bodensee-Krimi mit glücklichem Ausgang ist. Dass dieser in der Tat vergessene Bericht, ursprünglich in französischer Sprache verfasst und mit dem Titel L’Envers du miracle allemand versehen, nach hundert Jahren in der Übersetzung von Aline Coulombeau-Ottinger auf Deutsch vorgelegt wird, ist sensationell. Reventlow schildert, wie sie ihrem »Bubi«, dem heiß geliebten, damals zwanzigjährigen Rolf, im August 1917 bei der Flucht über die schwer bewachte Bodensee-Grenze in die neutrale Schweiz geholfen und ihn so vor weiteren Fronteinsätzen bewahrt hat – eine Mutter, die den unbedingten Mut besaß, »einfach nicht mitzutun«, wie ihre Schwiegertochter