Waldemar Fromm (Hrsg.): Statt einer Literaturgeschichte. Wege der Forschung. Literatur in Bayern (= Bavaria. Münchner Schriften zur Buch- und Literaturgeschichte. Kleine Reihe 1). München 2015: Allitera Verlag, 432 S.
Männer des Wortes. In Bayern lief die Aufklärung anders
Nein, keinesfalls will ich mich in die Geschichtswissenschaft einmischen, selbst dann nicht, wenn sie bayerische Themen verhandelt. Aber deren Ergebnisse zur Kenntnis nehmen und manches davon auch weitergeben – das schon! Zum Beispiel gibt es, neben unzähligen anderen einschlägigen Publikationen und oft sehr spannenden Büchern, eine gar nicht genug zu rühmende Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, und es gibt deren sogenannte Beihefte, grundsolide und immer stupend gelehrte Schriften. Sehr spezielle Bücher naturgemäß, zu ganz unterschiedlichen Themen. Niemanden wird da alles interessieren – wie denn auch! Das neueste Beiheft allerdings verdient vielleicht doch größere Beachtung, weil es über seinen engeren Gegenstand hinaus den Blick weitet für historische Prozesse, die auch im heutigen Bayern noch nachwirken.
Das Reichsstift St. Emmeram zu Regensburg erlebte im 18. Jahrhundert unter seinen letzten Fürstäbten eine wissenschaftliche Blütezeit und galt als eines der herausragenden Bildungszentren im gesamten oberdeutschen Raum. Mit seiner Aufhebung ein paar Jahre nach der Inbesitznahme der Stadt durch das Königreich Bayern fand diese benediktinische Glanzzeit ein ziemlich abruptes Ende. Danach dämmerte das bedeutende und höchst sehenswerte Ensemble von St. Emmeram viele Jahrzehnte hindurch vor sich hin, und so ganz aufgewacht ist es bis heute nicht. Aber das ist eine andere Geschichte. Das aus einer Tagung (2012) hervorgegangene Beiheft widmet sich dem Zeitalter der Aufklärung und enthält ein gutes Dutzend Abhandlungen, die die erstaunlich weitreichenden Netzwerke der gelehrten Mönche von St. Emmeram sowie die für deren Unterhalt wichtigsten Persönlichkeiten detailliert vorstellen. Unbedingt empfehlenswert ist die Lektüre der Beiträge von Alois Schmid und Ulrich L. Lehner. Dass sich, wie die meisten »nordlastigen« Epochendarstellungen bis heute nicht wahrhaben wollen, Katholizismus und Aufklärung eben nicht gegenseitig ausschließen und es eine in erster Linie von oberdeutschen Klöstern getragene »Katholische Aufklärung« durchaus gegeben hat, macht Alois Schmid an konkreten Beispielen sehr differenziert deutlich. Bestens dargelegt und begründet sind seine Urteile. Zum Beispiel: »Als Forschungsstätten übertrafen zumindest die großen Klöster ohne Zweifel die Universitäten an Bedeutung; sie entwickelten sich zu wahren Klosterakademien.« Oder: »In den Klöstern fühlte man sich einer zurückhaltenden und moderaten Form der Aufklärung verpflichtet … Von radikalen Brüchen wollten die Patres im Allgemeinen nichts wissen.« In Oberdeutschland habe man, anders als anderswo, vor allem versucht, »die Forderungen der Aufklärung mit denen des Katholizismus zusammenzubringen und für möglichst viele nutzbar zu machen«. Dabei sei die Wissenschaft meistens als »Beitrag zur Stärkung der Religion« angesehen worden: »Die Aufklärung wurde als entscheidendes Mittel zur Beförderung der Gotteserkenntnis verstanden.« Das hatte der Berliner Schriftsteller und »Erzaufklärer« Friedrich Nicolai in seiner einflussreichen Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 nicht kapiert. Oder nicht begreifen wollen. Was Ulrich L. Lehner über das Verhältnis der Benediktiner zur Aufklärung schreibt, entspricht in vielem der neuesten Forschung, wie sie etwa Steffen Martus in seinem 2015 erschienenen Epochenbild Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert zusammenfasst – dass es in Deutschland nämlich überhaupt keine einheitlich rationalistische Aufklärung gegeben hat, eher »Familien von Aufklärungen«, und dass zu denen eben auch die gelehrten Mönche Süddeutschlands zu rechnen sind. Und dass es für diese Wissenschaftler und Denker vor allem darauf ankam, »ihre Kirche in kritischer und positiver Auseinandersetzung mit dem akademischen Diskurs ihrer Zeit zu erneuern«. Lehner verschweigt nicht, dass das innerhalb des Benediktinerordens durchaus umstritten war. Der Freiheitsdrang der Klosterbrüder jedoch ließ sich nicht mehr effektiv einbremsen: »Mönche wollten ihre Lebensweise derjenigen der Welt anpassen. Gelehrte wollten nicht mehr die langen nächtlichen Gebete im Chor verrichten und Arbeiten im Kloster, sondern sich ganz ihrer Wissenschaft widmen können und so fort.« Am Prozess der Ausbreitung von Akademien, Leihbibliotheken, Kaffeehäusern und Salons als »Orte des gegenseitigen geistigen Austauschs« nahmen auch die Benediktiner teil, und letztlich haben sie zur »Etablierung Bayerns als Wissenschaftsstandort« maßgeblich beigetragen. Bemerkenswerte Ordenspersönlichkeiten hat es damals gegeben, im Bayernland und weit darüber hinaus, und auch zahlreiche Episoden und Anekdoten, denen man gerne näher nachgehen möchte. Und so ist, um das Mindeste zu sagen, dieser schöne Sammelband nicht nur außerordentlich lehrreich, sondern in vielfacher Hinsicht auch sehr anregend.
Bernhard Löffler / Maria Rottler (Hrsg.): Netzwerke gelehrter Mönche. St. Emmeram im Zeitalter der Aufklärung (= Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 44). München 2015: C. H. Beck Verlag. VIII/399 S.
Die Stadt lesen. Eine kleine Regensburger Literaturgeschichte
Literatur in Regensburg? Und: Regensburg in der Literatur? Für die Gegenwart fallen einem da schon einige Autoren ein, zum Beispiel Eva Demski, Ernst-Wilhelm Händler, Benno Hurt, Barbara Krohn, Sandra Paretti und Albert von Schirnding. Diese sechs Schriftsteller stellt Gertrud Maria Rösch im letzten Beitrag zu einem Gemeinschaftswerk vor, das in nicht weniger als siebenunddreißig Mini-Essays das literarische Leben der Donaustadt zu beleuchten sucht. Für den, dem ein Kurzessay zu wenig ist, sind die nützlichen Lektürehinweise gedacht. »Es gibt bisher kein Kompendium zur Regensburger Literatur«, schreiben die Herausgeber im Vorwort zu ihrer demnach mehr als überfälligen Regensburger Literaturgeschichte, die ausdrückliche eine »kleine« sein möchte – und doch viel »Großes« bietet.
Worum es genau geht? »Unter Regensburger Literatur verstehen wir Werke, die entweder in Regensburg entstanden sind und/oder sich an zentralen Stellen inhaltlich mit der Stadt auseinandersetzen.« Weil dies, fasst man wie hier die Literatur als ein sehr weites Feld, auf wirklich viele Texte zutrifft, musste ausgewählt werden. Die Auswahl ist originell: Persönlichkeiten aus dem Mittelalter, von Otloh von Sankt Emmeram bis zu Andreas Mülner, dominieren die Szene, und keineswegs alle haben literarische Werke im engeren Sinne hinterlassen – der von Claudia Märtl porträtierte Mülner etwa, »Regensburgs Titus Livius«, gilt gemeinhin als »Stammvater der bayerischen Historiografie des 15. Jahrhunderts« und nicht als Dichter. Sein Werk wirkte bis weit in die Frühe Neuzeit hinein, die hier – ebenfalls ungewöhnlich – mehr Raum bekommt als das 18. und 19. Jahrhundert. Im Kapitel über das 16. und 17. Jahrhundert steht ein Geschichtsschreiber wie der berühmte Aventinus ganz selbstverständlich neben Catharina Regina von Greiffenberg, der tiefgläubigen Barocklyrikerin aus Niederösterreich, von deren »Regensburger Andachtsreisen« Rainer Barbey berichtet – ein weiter Literaturbegriff eben. Für die »Goethezeit« wartet die Essaysammlung mit großen Namen auf: Goethe selbst, Hölderlin, Arnim, Brentano, Eichendorff, Mörike – alles schön und gut, und doch muss man kritisch anmerken, dass die Stadt gerade hier mit Dichtern geschmückt wird, für die das ehrwürdige Regensburg kaum mehr als eine winzige Episode in Leben und Werk darstellte. Das gilt auch für Thomas Mann, dessen 1909 erschienene Erzählung Das Eisenbahnunglück, wie Sebastian Karnatz berichtet, auf ein unerfreuliches Erlebnis bei Regenstauf zurückgeht. Damit sind wir im 20. Jahrhundert und gleich bei Georg Britting, dessen heute fast in Vergessenheit geratenes Werk Thomas Zirnbauer auf bewundernswerte Art und Weise lebendig werden lässt – sechs Seiten nur, allerdings absolut herausragend! Florian Sendtner schreibt über »Regensburger NS-Literatur« – und über ihr Gegenteil, The Blue Danube von Ludwig Bemelmans. Thomas Bernhard, der alte Griesgram, der drei Tage in der »schrecklichen Stadt« am Donauknie verbracht hat und nie wieder dorthin zurückgekommen ist, durfte auch nicht fehlen. Nicht nur der Bernhard-Essay verdeutlicht, dass die Kleine Regensburger Literaturgeschichte bisweilen schon sehr weit ausholen musste, um Regensburg als Metropole bedeutender Literatur zu präsentieren. Sei's drum! Interessant ist dieses Buch allemal, anregend – und manchmal auch sehr spannend.
Rainer