Mein Bruder, Muhammad Ali. Rahaman Ali. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rahaman Ali
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783903183827
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gesagt: Es fiel mir immer leicht, mit Mädchen zu sprechen. Ja, das klingt vielleicht überraschend, aber als wir Teenager waren, interessierten sich die Mädchen mehr für mich als für meinen Bruder. Und ich hatte bereits lange vor ihm Freundinnen. Die Mädchen in der Nachbarschaft und in der Schule kannten uns beide, und Muhammad himmelte sie still aus der Ferne an, denn es fehlte ihm das Selbstvertrauen, sie anzusprechen. Wenn es darum ging, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen würden, war er wie gelähmt. Egal wie sehr er sich bemühte, seine Schüchternheit zu verstecken, sie war immer zu bemerken. Trotz seines typisch dreisten Verhaltens und seines entwaffnenden Lächelns war ein Zurücklächeln alles, was er bekam, zumindest in diesen prägenden Jahren unserer Jugend. Es klingt vielleicht recht eigenartig, aber damals sahen einige Mädchen meinen Bruder als das, was man heute als „Nerd“ oder Sonderling bezeichnet – zumindest sagten mir das einige, mit denen ich sprach, denn er spielte kein Football oder Basketball, die Sportarten für „richtige“ Männer. Es lag definitiv nicht an seinem Aussehen. Es hatte mehr mit seiner Persönlichkeit zu tun, die hinter dem draufgängerischen Äußeren mit ihren eigenen Stolpersteinen zu kämpfen hatte. Seine Versuche, dies zu kompensieren, machten die Situation meist noch schlimmer für ihn. So lief er neben dem Schulbus her und rief die Namen von Mädchen und Jungen, und die meisten Mädchen versanken in ihren Sitzen und schämten sich mehr für ihn als für sich selbst.

      Muhammad konnte es nicht leiden, dass ich die Aufmerksamkeit der Mädchen auf mich zog, und damals war dies vielleicht das Einzige, was einen Keil zwischen uns als Brüder hätte treiben können. Auf dem Heimweg von der Schule, zum Beispiel, stieg ich meist früher aus dem Bus, um meine Freundin nach Hause zu begleiten und noch eine Weile bei ihr abzuhängen. Die folgende Szene spielte sich nicht nur einmal ab: Meine Freundin und ich hingen also bei ihr zu Hause ab, bis wir ein Klopfen an der Tür hörten. Als wir öffneten, stand da mein Bruder mit unschuldigem Gesicht.

      „Hey, Rudy, Mom sagt, du sollst sofort nach Hause kommen oder es gibt Probleme“, war der Standardsatz. „Sie hat mir gesagt, ich soll dich holen gehen und du sollst dich sofort auf den Weg machen!“

      Da ich Angst davor hatte, Probleme zu Hause zu bekommen, entschuldigte ich mich bei meiner Freundin, rannte so schnell ich konnte die etwa vier Häuserblocks nach Hause und dachte immer darüber nach, weswegen ich Probleme bekommen sollte.

      „Was ist denn los, Mom?“, fragte ich sofort, als ich ins Haus kam, nur um in das ahnungslose Gesicht unserer Mutter zu blicken, die ganz überrascht schien, dass ich da war, und keine Ahnung hatte, wovon ich sprach.

      Immer wieder und wieder fiel ich auf Muhammads Masche herein, und er wiederholte diese Scharade, wann auch immer er sich danach fühlte. Ich habe ihn mehr als einmal beschuldigt, das alles nur aus Eifersucht zu tun. Ein paarmal stritten wir auch deswegen. Das war die einzige Zeit in unserer Jugend, in der mich mein Bruder wirklich zornig machte. Das war kein Spiel, in dem er mich schlagen konnte, und es muss ihn wirklich geschmerzt haben, seinem kleinen Bruder dabei zuzusehen, wie er ihn in einer Sache, die er nicht so ganz verstand, so ausstach. Trotzdem, egal wie hitzig unsere verbalen Auseinandersetzungen waren, es gab keine Phase während unserer gesamten Kindheit, in der wir uns deswegen geprügelt hätten. Kein Mädchen konnte unser Verhältnis zueinander kaputt machen.

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      Ob wir nun hinter Mädchen herjagten, Touch Football spielten oder uns selbst Spiele ausdachten – unsere Eltern hatten eine goldene Regel, die mit aller Strenge durchgesetzt wurde und die lautete, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein mussten. Das war nichts Ungewöhnliches zu jener Zeit, als Kinder meist frühmorgens das Haus verließen und den ganzen Tag auf der Straße verbrachten, wo sie allerlei Unfug trieben, bevor sie bei Sonnenuntergang wieder nach Hause zurückkehrten. Die meisten Leute in unserem Viertel konnten sich den Luxus einer Armbanduhr nicht leisten. Mein Vater hatte allerdings eine einfache Lösung für das Problem: „Erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, wie spät es ist. Schau lieber, dass du wieder zu Hause bist, bevor die Straßenbeleuchtung angeht, sonst gibt’s Saures.“

      Also spielte sich immer das Gleiche ab. Sobald es dunkel wurde, ging die Straßenbeleuchtung an, und wir liefen alle nach Hause. Doch nicht immer ging es sich rechtzeitig aus. Wenn wir zu spät kamen, wurden wir nach guter alter Tradition mit einer Tracht Prügel im Badezimmer bestraft. Muhammad ging immer als Erster, während ich vor der Tür wartete, bis Vater mich hineinrief, nachdem er mit meinem Bruder fertig war. Muhammad hatte nichts für Vaters harte Bestrafung für unser Zuspätkommen und andere Vergehen übrig, doch der hatte seine eigenen Vorstellungen, wie die Dinge zu regeln waren. Man kann sagen, Vater nahm seine Pflicht, uns Grenzen zu setzen, sehr ernst. Diese Art, wie er seine Stimme erhob und einen gemeinen Blick aufsetzte, der sich über sein Gesicht zog und die bevorstehende Bestrafung ankündigte.

      Meist sah er, wie wir aus Furcht vor der Bestrafung schon ganz steif dastanden, doch da war es bereits zu spät. Regeln waren dazu da, um befolgt zu werden, und Vater stellte sicher, dass wir sie auch ernst nahmen. Vielleicht war es das und einige andere Dinge, warum Muhammad am Ende seiner Teenagerjahre auf Distanz zu unserem Vater ging. Damit meine ich nicht, dass sich die beiden zerstritten hätten, aber dieses spezielle Verhältnis, das sich zwischen Vätern und Söhnen oft bildet, war bereits verloren, bevor es wachsen konnte.

      Gegenteilig zu dem, was so einige Biografen schrieben, würde ich niemals sagen, dass unsere Kindheit in Louisville von häuslicher Gewalt geprägt war. Erstens tat Vater niemandem absichtlich und grundlos weh. Die meiste Zeit über dachten Muhammad und ich nicht einmal an seine Vorstellung von Disziplin, denn wir brachen die Regeln immer wieder aufs Neue und verschwendeten keinen Gedanken an die Konsequenzen. Natürlich disziplinierte unser Vater uns hin und wieder mit einer Tracht Prügel, doch in den 1940er- und 1950er-Jahren war das ein weithin akzeptiertes und als notwendig angesehenes Mittel. Kindern den Hintern mit dem Gürtel zu versohlen, war sicherlich nichts Außergewöhnliches in der afroamerikanischen Gemeinde, vor allem wenn das Brechen von Regeln ernste Konsequenzen haben konnte. Im Nachhinein erkannte Muhammad, dass Vater es nur gut meinte, und akzeptierte, dass es nur zu unserem Besten gewesen war. Denn es war wirklich gefährlich, spät abends noch unterwegs zu sein, vor allem in unserer Gegend, und egal was er sich sonst noch dabei dachte, unser Vater wollte nicht, dass seine Kinder in die üblen Dinge, die nachts auf den Straßen passierten, verwickelt wurden. Schon damals waren Drogen ein Problem, genauso wie Raubüberfälle, Schlägereien und brutale Messerstechereien, und als Vater zweier schwarzer Jungs hatte er noch viel mehr Sorgen, die er sich machen musste. In den 1950er-Jahren gerieten in einigen Teilen der USA die Vorurteile Farbigen gegenüber völlig außer Kontrolle. Die Gewalt, die von verschiedenen rassistischen Gruppierungen angezettelt wurde, war speziell in den Südstaaten weitverbreitet, und Louisville war nicht weit davon entfernt. Als Jugendlichen wurde es Muhammad und mir schnell bewusst, dass die Tatsache, dass wir schwarz waren, uns anders machte. In unserer Stadt versuchten die Schwarzen, auf ihrer Seite zu bleiben und sich sozusagen in Selbstisolation zu begeben. Wir hatten so gut wie keine Probleme in unserem Viertel, doch in anderen Gegenden wurde man immer mit seiner Hautfarbe konfrontiert. Die Lage war sehr angespannt, und Schwierigkeiten lauerten an jeder Ecke.

      Vor allem eine Geschichte zeichnet ein gutes Bild, wie Diskriminierung in unserer Jugend als etwas Alltägliches akzeptiert wurde. Als Muhammad acht war, nahm Mutter ihn mit in die Stadt. Als sie wieder nach Hause kamen, liefen Tränen über seine Wangen. Es stellte sich heraus, dass er durstig gewesen und vor einem Laden gestanden war und weinend um Wasser gebeten hatte – nur, dass der Laden Farbige nicht bediente. Mutter nahm ihn bei der Hand, ging in den Laden und bat die Verkäuferin um ein Glas Wasser, doch die Frau – so erzählte Mutter später – hatte Angst. Sie erzählte unserer Mutter, dass sie ihren Job verlieren würde, wenn sie „Neger“ bediene. Da stand also ein kleiner, schluchzender Junge, der weinte und nur um ein wenig Wasser bat, um seinen Durst zu stillen, und seine Mutter konnte ihm nicht einmal Wasser in einem Laden in seiner Heimatstadt kaufen. Der Vorfall gipfelte darin, dass ein Wachmann zu Mutter und Muhammad ging und sie aufforderte, den Laden zu verlassen, damit die Situation nicht noch weiter eskaliere. Mutter vermied Konfrontationen und machte auch kein großes Aufheben darum, doch dieser und andere Vorfälle erinnerten meinen Bruder und mich permanent daran, dass wir im Prinzip nur zweitklassige Bürger in unserer eigenen