Jetzt sah er gerade, wie er in der Oberstufe den Werklehrer Eriksson vor der ganzen Klasse im Fingerhakeln besiegte. Eriksson, dessen Spitzname der Diktator war, war bei allen wegen seiner mürrischen und gewaltsamen Art unbeliebt. Es ging das Gerücht, dass er im Flur vor dem Werkraum mal einen Schüler am Pullover an einem Kleiderhaken aufgehängt hätte.
Der Mann erinnerte sich deutlich an das Geschehen. Wie immer waren die Erinnerungsbilder lebhaft und detailliert. Während einer turbulenten Doppelstunde hatte Eriksson herumgeschrien, bis sein Gesicht knallrot angelaufen war, hatte ihm befohlen, den Mund zu halten und ruhig an seiner Arbeitsbank zu sitzen. In einem Moment des trotzigen Übermuts hatte er den Lehrer gefragt, ob Eriksson es wagen würde, sich auf ein Duell im Fingerhakeln einzulassen. Zu seinem großen Erstaunen hatte Eriksson zugestimmt.
Sie saßen einander auf Hockern vor dem Katheder gegenüber und krempelten die Hemdsärmel hoch. Die gesamte Klasse versammelte sich in gebührendem Abstand im Kreis um sie. Der Kampf wurde lang und schmerzhaft. Er hatte sich antrainiert, den Schmerz wegzudenken, ihn vollkommen zu ignorieren. Sein Vater hatte ihm beigebracht, dass das Leiden nur der Ausdruck dafür war, dass die Schwäche den Körper verließ. Er fixierte Erikssons graublaue Fischaugen ohne zu blinzeln; die Unterarme zwischen ihnen vibrierten.
Als die Finger langsam weiß wurden, ließ Eriksson plötzlich los. Der große Mann zog die Hand zurück und begann den Zeigefinger zu massieren, gleichzeitig sank er auf dem Stuhl zusammen und fing an zu weinen. Er weinte so untröstlich wie ein Kind. Alle Dämme brachen, und der riesige Körper zitterte wie im Schüttelfrost. Niemand im Klassenzimmer wagte es, auch nur einen Laut von sich zu geben, alle standen wie erstarrt an ihren Bänken. Die Zeit schien unendlich. Die Schüler, die sich trauten, schielten auf die Wanduhr über der Tür. Eriksson saß abgesehen von dem ihn immer seltener durchlaufenden Zittern reglos da. Als er keinerlei Anzeichen machte, mit dem Weinen aufzuhören, und es zur Pause klingelte, schlichen die Schüler einer nach dem anderen aus dem Zimmer.
Bei der Erinnerung lächelte er. Nach diesem Ereignis hatte es niemand mehr gewagt, sich mit ihm anzulegen, der Respekt war sofort da gewesen und verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Schule. Er lehnte sich über den Tisch vor und rückte einen leeren Blumentopf im Fenster gerade. Letzte Nacht war er abrupt von einer unbekannten Person unterbrochen worden. Eine zufällige Besucherin hatte ihn vollkommen überrascht. Es war pures Glück, dass er nicht dazu gezwungen gewesen war, seine Kräfte gewalttätig einzusetzen. Er spürte, wie heftiger Zorn in ihm wuchs. Was passiert ist, war nicht akzeptabel. Er musste alles, was geschah, selbst kontrollieren, ohne darauf zu vertrauen, dass ihm das Schicksal beistand. Sicher hatte er es geschafft, ungesehen zu verschwinden, aber das Ziel war und blieb unerreicht. Er verabscheute es, wenn etwas von dem geplanten Szenario abwich. Es ging inzwischen zu leicht, die Vorbereitungen waren nicht optimal gewesen. Sicher war seine Fähigkeit, sich unter Menschen unsichtbar zu machen, angeboren. Aber er musste sie trainieren. Zum Weitermachen war ein Plan notwendig, eine überzeugende Strategie gegen alle Eventualitäten.
Er stand auf und ging zum Kalender an der Wand. Dort stand er lange da und starrte auf die leere Fläche unter der Zahl Acht. Dann hob er die Hand und fuhr mit dem Zeigefinger wieder und wieder über die unendliche, ewige Zahl. Die Bewegung wurde immer schneller, rund und rund wie in Trance.
Janus war nicht zufrieden. Ein dumpfes Ticken erfüllte seinen Kopf. Nach einer Weile spürte er, wie es in den Fingerspitzen zu brennen begann. Das beruhigte ihn etwas. Er musste die Ordnung wiederherstellen. Sich etwas ausdenken, das sein Pech kompensierte. Sonst ging er das Risiko ein, sein Ziel nicht zu erreichen. Der Gedanke beunruhigte ihn, ein Gefühl des Kontrollverlusts lähmte seinen Körper. Es musste einen Weg geben, ES MUSSTE.
Niemand durfte die Harmonie der zeitlosen, endlos wiederkehrenden Bewegung des Pendels stören.
Trotz all der Energie, die er während der vergangenen vierundzwanzig Stunden investiert hatte, hatte er keine Idee, wie er das gebrochene Glied reparieren könnte. Jetzt vertraute er darauf, dass es sich mit der Zeit einfach ergeben würde. So war es immer gewesen. Nun war es am wichtigsten, nicht an Geschwindigkeit zu verlieren, nicht abzuweichen und nicht auf den ursprünglichen Plan zu verzichten.
Alles hat seine Zeit, jede Unternehmung unter dem Himmel ihren Augenblick. Geboren zu werden hat seine Zeit, und zu sterben hat seine Zeit. Er würde bald eine Kompensation für das Vorgefallene finden, etwas zur Besänftigung.
Die nächste Welle war bereits auf dem Weg an den Strand.
Er konnte nur weitermachen.
Kapitel zehn
Am 4. Juli um zehn Uhr vormittags hatte die Sonne das Lüftungssystem des Polizeireviers besiegt. Diejenigen, die noch nicht im Urlaub waren, ertrugen die Hitze, so gut sie konnten, und versuchten, so wenig wie möglich zu tun. Niemand hatte mehr den Nerv, das Wetter zu kommentieren.
Axberg hatte gerade beschlossen, selbst zum Empfang hinunterzugehen und Birgit Öberg abzuholen. Aus Erfahrung wusste er, dass Besucher sich oft auf dem Revier verliefen, was angesichts der Tatsache, dass der Grundriss aller Etagen identisch war, nicht verwunderte. Im Sommer gab es außerdem nur wenige Leute im Flur, die jemandem, der sich verirrt hatte, den Weg zeigen konnten.
Vor zwei Tagen war Axberg angerufen worden. Ihm war sofort klar, dass es sich bei dem Anruf um etwas handelte, um das er sich so schnell wie möglich kümmern musste. Bevor das nicht erledigt wäre, würde er keine Ruhe zum Arbeiten finden.
Birgit Öberg hatte darum gebeten, ihn so bald wie möglich treffen zu können. Sie müsse ihm etwas erzählen. Was, wollte sie am Telefon nicht sagen. Zunächst war Axberg verärgert gewesen, und normalerweise lehnte er solche Anfragen ab. Er konnte sich unmöglich mit allen Leuten treffen, die anriefen und behaupteten, sie hätten etwas Wichtiges zu melden. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass es sich dabei allzu oft um Leute handelte, die nur Bagatellen zu berichten hatten, oder um notorische Lügner, die sich irgendeine verrückte Geschichte ausgedacht hatten. Gerade als er auflegen wollte, erwähnte Birgit Öberg, dass Pfarrer Ekstedt ihr gesagt habe, sie solle anrufen. Da hatte Axberg gewusst, dass es sich nicht um ein Allerweitsgespräch handelte.
Der Pfarrer hatte sich weiterhin täglich bei Axberg und seinen Kollegen gemeldet, um ihnen klarzumachen, dass seine Mutter keines natürlichen Todes gestorben wäre. Allerdings konnte er nicht genauer erklären, warum er so sicher war, dass jemand im Haus gewesen war. Außer einem eventuell gestohlenen Wecker hatten sich in diesem Fall keine neuen Beweise ergeben. Niemand hatte diese Sache ernst genommen, stattdessen war es zu einem beliebten Witz auf dem Revier geworden, nach den letzten Neuigkeiten vom Pfarrer zu fragen.
Birgit Öberg saß auf einer Bank in der Eingangshalle und wartete. Trotz der Wärme trug sie einen grauen, knielangen Mantel und eine Cordhose, die über soliden Wanderschuhen Falten warf. Auf ihren Knien lag eine Handtasche, die sie die ganze Zeit mit beiden Händen festhielt. Axberg schätzte sie auf ungefähr fünfundfünfzig. Sie hatte freundliche, braune Augen und glatte Haut, was auch daran lag, dass sie ein paar Kilo Übergewicht hatte. Ihr Händedruck war fest und warm.
Sie gingen an dem Glaskasten vorbei, in dem Monika Roos saß und alle begutachtete, die vorüberkamen. Mit dem Headset auf dem Kopf führte sie gerade ein lebhaftes Gespräch. Sie lachte und winkte Axberg zu, der nickte und sich bemühte, das Lächeln zu erwidern.
Im Flur vor Axbergs Zimmer stand Sven Hamrin gegen die Wand gelehnt und wartete. Axberg hatte ihn darum gebeten, bei dem Gespräch dabei zu sein, da er im Haus des Pfarrers gewesen war. Axberg bat sie hinein und hoffte, dass der Zigarettenrauch durchs Lüften verschwunden war.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Axberg und zeigte auf den Besucherstuhl.
Birgit Öberg setzte sich und behielt den Mantel an. Hamrin stellte sich wie ein tragender Pfeiler an die Wand links neben Axberg.
»Sie wollten mir etwas erzählen?«, begann Axberg.
»Ja, und ich bin dankbar, dass ich kommen durfte.«
Birgit Öberg umfasste den Griff der Handtasche, als müsse