Hamrin wartete in seinem Büro.
»Was denkst du?«, fragte Axberg.
»Dass der Pfarrer einen an der Waffel hat.«
Axberg nickte.
»Glaube ich auch. Ich werde ihn später mal anrufen und nachfragen, was los ist. Hast du noch was hinzuzufügen, außer dem, was schon im Bericht steht?«
Hamrin sah ihn verwundert an.
»Nein, was sollte das denn sein?«
Axberg zuckte mit den Schultern.
»Irgendein Detail, etwas, das man besser wissen sollte . . .«
»Alles, was wert war, notiert zu werden, steht da«, antwortete Hamrin. »Was bedeutet, überhaupt gar nichts. Kann ich wieder zu meinem Kram zurück?«
»Klar.«
Axberg sah auf die Uhr. Halb zwölf. Er beschloss, einen Anruf zu erledigen, bevor er zum Mittagessen nach Hause fuhr. Nach ein paar Minuten in der Warteschleife hörte er Doktor Conrads wohl bekannte Mischung aus einem amerikanischen Akzent und Västerbottener Dialekt am anderen Ende der Leitung.
Jeff Conrad war ein weißhaariger, großer und schmaler Mann Mitte fünfzig. Ursprünglich kam er aus Los Angeles, wo er über fünfundzwanzig Jahre in einer international anerkannten Pathologieabteilung gearbeitet hatte. Jetzt war er über den Atlantik gezogen, um eine zwanzig Jahre jüngere Doktorandin zu heiraten. Das lag zu einem großen Teil daran, dass ihm neun Monate nach einem Pathologiekongress in Stockholm am Telefon eine nicht ganz geplante Tochter vorgestellt worden war.
Die Tochter war inzwischen fast drei Jahre alt, und genauso lang war Jeff Conrad nun Leiter des rechtsmedizinischen Instituts in Umeå. Er war ein erfahrener Pathologe, der daran gewöhnt war, viel brutalere Morde zu begutachten, als in seiner neuen Heimat üblicherweise vorkamen. Axberg kannte ihn trotz der relativ kurzen Bekanntschaft bereits ziemlich gut.
»Hallo Johan. Wie geht’s?«
Conrad sprach ihn in jedem zweiten Satz mit Namen an, eine Angewohnheit, mit der Axberg sich immer noch nicht ganz wohl fühlte.
»Gut, danke. Die Hitze könnte aber langsam mal nachlassen.«
»Beschwer dich nicht, Johan. Ich finde, dass es hier oben kalt ist. Zweiundzwanzig Grad im Schatten, aber man gewöhnt sich wohl daran.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Je älter man wird, umso stärker friert man.«
Conrad lachte sein heiseres Lachen.
»Wenn das das einzige Problem im Alter wäre, sollte man eigentlich froh sein. Aber du rufst bestimmt nicht an, um über das Wetter und das Alter zu reden?«
»Nein. Ich hänge hier bei einer Sache fest . . . Wahrscheinlich steckt gar nichts dahinter, aber ich hätte trotzdem gern deine Meinung gehört.«
Axberg erzählte ausführlich, was er über Gerd Ekstedt und Birgit Öbergs Mann wusste. Er erwähnte sogar, dass Pfarrer Ekstedt ständig Druck ausübte. Jeff Conrad lauschte aufmerksam, warf nur ab und zu ein »Ja« oder »Ja, ja« ein.
»Hast du den Verdacht, dass hinter den Todesfällen ein Verbrechen steckt?«, fragte Conrad schließlich.
»Nein, eigentlich nicht. Aber ich möchte trotzdem überprüfen, ob im Fall Gerd Ekstedt etwas unklar ist, bevor ich mit ihrem Sohn spreche.«
Conrad kicherte.
»Ich kann dir sagen, Johan, dass Frau Ekstedt, die ich selbst obduziert habe, eines völlig natürlichen Todes gestorben ist. Das Herz hat es einfach nicht mehr geschafft. Sie kannst du abhaken. Was den anderen Mann angeht, kann ich nicht mehr sagen, als dass es ziemlich seltsam klingt.«
Conrads Kommentar beruhigte Axberg. Natürlich war alles nur Einbildung.
Um fünf vor zwölf verließ er das Polizeirevier. Sofort brannte die Sonne auf sein schwarzes T-Shirt und seine Jeans. Die Poren waren weit geöffnet, er war schweißgebadet. Die Tische und Stühle vor den Restaurants waren voller Mittagsgäste. Auf den Straßen lag eine dünne Staubschicht. Das Handy klingelte. Axberg musste mit der Hand das Display von der Sonne abschirmen, um die Buchstaben lesen zu können.
Carolina.
Axberg antwortete nicht, und als die Melodie aufhörte, schaltete er das Handy aus. Er hatte versprochen, nach der Arbeit mit ihr zu Ikea zu fahren. Jetzt bereute er sein Versprechen. Er wusste nur noch nicht, ob er es mit einer Notlüge oder mit der Wahrheit versuchen sollte. Das Zusammensein war in letzter Zeit viel zu intensiv geworden, und es fiel ihm schwer, ein echtes Gleichgewicht zu finden. Entweder war er voll und ganz dabei, oder er zog sich völlig zurück. War verschlossen wie eine Auster. Wenn es um Carolina ging, konnte er keine Kompromisse eingehen. Sie war wie ein Gift, eine angenehme Droge, von der er nicht genug bekommen konnte. Bis er sich plötzlich selbst verlor und sich mit einem Katapult wegschoss. Ikea war die Grenze. Damit käme er nie klar.
Jetzt würde er nach Hause gehen und duschen, danach gab’s einen Teller Dickmilch mit Knäckebrotstücken.
Dann würde er Carolina anrufen. Vielleicht.
Kapitel elf
Um halb drei saß Axberg in seinem Saab 900 und war auf dem Weg zum Pfarrhaus in Ljustadalen.
Er fühlte sich nach der Dusche noch angenehm frisch und hatte ein kurzärmeliges, weißes Hemd angezogen. Die Fenster auf der Fahrer- und der Beifahrerseite waren jeweils zur Hälfte geöffnet, und der Wind trocknete seine Haare, während er die Stadt hinter sich ließ. Im CD-Player lief Bob Dylan, und Axberg sang so gut er konnte mit. »Don’t think twice, it’s alright.«
In solchen Momenten war das Leben als Polizist wunderbar. Freie Einteilung der Arbeitszeit mit eigener Verantwortung.
Während des Mittagessens hatte Axberg den Pfarrer angerufen und ein Treffen vereinbart. Das Gespräch mit Birgit Öberg hatte ihm klargemacht, dass er den Stier bei den Hörnern packen und Ekstedt die Zeit widmen musste, nach der dieser verlangte. Nachdem er Hamrins Bericht gelesen und den Fall mit Jeff Conrad besprochen hatte, war Axberg immer noch davon überzeugt, dass es sich nicht um eine Polizeiangelegenheit handelte. Dennoch war es wirklich an der Zeit, dass er als Ermittlungsleiter Ekstedt traf und dessen Version hörte. Außerdem war es schön, dem Revier zu entkommen und die stickige Luft, die reglos zwischen den beiden Bergen der Stadt lag, hinter sich lassen zu können. Axberg warf einen Blick auf die Karte auf dem Vordersitz. Das Pfarrhaus befand sich ein paar Kilometer nördlich von Ljustadalen. Auf einem Feld links der Straße lagen lange Reihen von in Folie verpackten Silagerundballen, die darauf warteten, abgeholt zu werden. Axberg fand, dass die kreideweißen Ballen in der Landschaft wie plötzlich gelandete Ufos aussahen. Die Subventionen für die Bauern nahmen sicher keine Rücksicht auf ästhetische Fragen.
Als er am Einkaufszentrum in Birsta vorbeifuhr und das Ikea-Schild sah, das über dem riesigen Parkplatz emporragte, bekam er ein schlechtes Gewissen. Wie sollte er den für diesen Abend versprochenen Einkaufsbummel überstehen? Wenn er nicht bald eine Entscheidung traf, wusste er, was ihn erwartete. Carolina, die mit dezidierten Meinungen zu unterschiedlichen Einrichtungsdetails und einer endlos langen Einkaufsliste neben ihm im Auto saß. Axberg schüttelte es bei diesem Gedanken. Von seiner eigenen Unentschlossenheit und dem unendlichen Einkaufszentrum gefangen würde er mürrisch schweigen. Carolina, die seine Gefühle immer schon gekannt hatte, noch bevor sie ihm selbst bewusst wurden, wäre stinksauer. Und würde fragen, warum er nie sagte, was er meinte. Dass er feige sei.
Sie riskierten, wieder in eine dieser schlimmen Spiralen abzurutschen, die immer in einer Katastrophe endeten. Das wollte er nicht. Er beschleunigte und überschritt die Geschwindigkeitsbeschränkung. Eigentlich war die Entscheidung, was diesen abendlichen Ausflug anging, eher symbolisch. Seine Angst hatte andere Gründe. Bei einem Abendessen auf dem Balkon hatte Carolina gesagt, dass sie Kinder haben wollte. Am liebsten mehrere. Und das bald. Sie wurde im Herbst dreiunddreißig.
Axberg