Doch das Fußballspiel war auch aus anderen Gründen attraktiv für die diskriminierte jüdische Bevölkerungsgruppe. Zunächst existierten in vielen Turnvereinen, auch in denen Berlins, antijüdische und antisemitische Ressentiments, so dass eine Aufnahme in diese etablierten Organisationen mindestens mit Problemen behaftet war, zuweilen sogar unmöglich schien. Nicht zu vergessen ist, dass der deutsche Antisemitismus-Streit 1879/80 von Berlin ausging. Mit dem Hofprediger Adolf Stoecker saß in Berlin einer der Protagonisten dieser Debatte, die noch Anfang der 1890er Jahre 16 Abgeordnete aus explizit antisemitischen Parteien in den Reichstag spülte7 und die gerade in Berlin zu immer neuen Antisemitismus-Wellen führte. Die nichtjüdische Gesellschaft machte sich seinerzeit ein Bild von den Juden, das sich an den Merkmalen der modernen, kapitalistischen Gesellschaft orientierte. Demnach waren »die Juden« geografisch äußerst mobil, besaßen weitläufige Kontakte, und sie wiesen aufgrund ihrer Bildungsvoraussetzungen eine überproportionale Aufwärtsmobilität auf. Adorno und Horkheimer beschreiben sie in ihrer »Dialektik der Aufklärung« als »Kolonisatoren des Fortschritts«. In der kulturpessimistischen Gesellschaft des Kaiserreichs indes wurden sie allzu oft zu Sündenböcken für die enormen Probleme während der ersten Industrialisierung reduziert, etwa als »Geschäftemacher« diffamiert.
Das 1913 eingeweihte Deutsche Stadion in Berlin war die erste große Sportanlage im Deutschen Reich. 1920 spielte hier die Berliner Stadtauswahl gegen Basel. Links Schiedsrichter Peco Bauwens (der spätere DFB-Präsident), rechts neben ihm Simon Leiserowitsch.
Nicht selten blieb deswegen jüdischen Kommilitonen auch der sonst übliche Gang in elitäre Studentenverbindungen verwehrt. Der Eintritt in Fußballvereine war nun eine Möglichkeit, diesen Makel auszugleichen. Denn diese neuartigen Vereinigungen eiferten dem sozialen Status der angesehenen Studentenverbindungen nicht nur in der Namensgebung nach (etwa mit »Alemannia«, »Markomannia« oder »Germania«), sie kopierten auch weitgehend deren gesellschaftliche Gepflogenheiten. Heftige Besäufnisse, Kommers genannt, waren an der Tagesordnung, und auch die Gesänge der Fußballer entsprachen den Usancen der studentischen Verbindungen. Beispielhaft dafür steht das frühe Vereinsleben der am 9. April 1902 gegründeten »Berliner Tennis- und Ping-Pong-Gesellschaft Borussia«, die sich alsbald in Tennis Borussia Berlin umbenannte. Wehmütig erinnerte sich Klubgründer Dr. Jacques Karp 1927 in der TeBe-Festschrift an Zeiten, »da ein Kamke und ein ›Bumm‹ nach sportlichem Tun die ›Fide-litas‹ der Borussentafel mit studentischem Brauch führten und selbst die hartnäckigsten Philister zum Mitmachen veranlassten. Alte Burschenherrlichkeit war es, wenn Kamke als ›Präside‹ statt des sonst gewohnten Rapiers seinen neu erstandenen echten Manilarohr-Spazierstock auf die Kneiptafel schmetterte, ›Silencium‹ oder ›In die Kanne‹ gebot. Nachher glich sein guter Stock einem Besen, von oben bis unten in einzelne Fasern aufgesplittert. Nach jedem Spiel – ob es nun in den Zeiten des Schönhauser ›Exers‹, des Niederschönhausener Wirkens oder nach dem Sport auf dem Platze in der Moabiter Seydlitzstraße war – entstand eine solche Tafelrunde. Die Gaststätten um den ›Exer‹ herum, das Vereinsheim Schlegel, der ›Patzenhofer‹, ›Pfefferberg‹ und manches andere Lokal des Schönhauser Viertels könnten ein Stück dieser Geselligkeit erzählen.«
Der Weg der Tennis Borussia
Hervorgegangen war dieser Verein aus der »Kameradschaftlichen Vereinigung ›Borussia‹« und der »Berliner Tennis- und Ping-Pong-Gesellschaft«, deren zwölf aus Oberschülern und Studenten bestehenden Gründungsmitglieder sich bei Spielen des Fußballklubs »Rapide« kennen gelernt hatten.8 Die Einzelheiten dieser Gründung sind nicht ganz klar, in der ersten Festschrift heißt es lediglich, die Gründung sei nach einer »patriotischen Anwandlung« geschehen. Die schwarz-weißen Vereinsfarben sprechen dafür, schließlich imitierten sie die Farben Preußens. Aber war eventuell auch Antisemitismus im Spiel? Diese Frage muss Spekulation bleiben. Fakt ist aber, dass sich etwa mit Jacques Karp und dessen Bruder Leo auch einige Juden unter den Gründern befanden und Tennis Borussia sich bis 1933 zu demjenigen Berliner Verein entwickeln sollte, dem der höchste jüdische Mitgliederanteil nachgesagt wurde.
Personifiziert wurde der kometenhafte sportliche Aufstieg des Klubs durch den Juden Alfred Lesser, ebenfalls Klubgründer und bis 1933 die zentrale Figur des Vereinslebens. Geboren am 23. Mai 1882 in Guben, hatte Lesser 1903 im Verein das Fußballspiel angeregt. Es ist unbekannt, welche schulische und berufliche Ausbildung Lesser genoss, auf jeden Fall brachte er es bald zu einer lukrativen Teilhaberschaft in der Firma Lesser & Masur, die vor dem Ersten Weltkrieg mit Melasse handelte, und wohnte inmitten des Hansa-Viertels in Tiergarten. Obwohl dieser Stadtteil von einer wohlhabenden jüdischen Mittelschicht geprägt wurde, war es doch kein jüdisches Ghetto, als welches etwa das Londoner East End betrachtet wurde, auch dann nicht, wenn es kaum ein Haus gab, in dem nicht mehrere jüdische Familien lebten. Die meisten verdienten als selbstständige Kaufleute ihr Geld, und wenn sie politisch und jüdisch interessiert waren, gehörten sie in den 1920er Jahren überwiegend der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens an. Der größte Teil der Juden indes war, so beschreiben es jedenfalls Zeitzeugen, säkularisiert und besuchte die Synagoge meist nur zu besonderen Anlässen.
Lesser nutzte seinen beträchtlichen Wohlstand schon bald zu einem ve-ritablen Mäzenatentum. 1912 stiftete er während seiner ersten Amtszeit als Vorsitzender dem Verein die 27.000 m2 Grundfläche fassenden Sportplätze in Niederschönhausen, die Basis für die weitere Entwicklung des Vereins. (1928 konnte das Grundstück, als der Verein nicht liquide war, mit einer Hypothek über 12.000 Mark belastet werden.) Gleichzeitig war damit der Weg vom Tennis- zum Fußballverein weitgehend besiegelt, da die Anlagen für Fußball ausgelegt waren. Vor allem Lesser war dafür verantwortlich, dass der Klub sich in den 20er Jahren zum zweitbesten Fußballklub nach Hertha BSC entwickelte. Er, der 1925 außerdem zum Vizekonsul von Honduras avancierte, finanzierte Anfang der 20er Jahre aus seinem Privatvermögen viele Auswärtsfahrten, lockte außerdem ruhmreiche Mannschaften wie Hakoah Wien oder Cardiff City zu Gastspielen in das Poststadion. Als der Verein 1925, weil mit Carl Koppehel ein bezahlter Geschäftsführer eingestellt werden sollte, eine Unterdeckung im Etat befürchtete, übernahm Lesser gemeinsam mit einem weiteren Gönner kurzerhand das Gehalt für ein Jahr.
Auf ähnlichem Wege finanzierte der Verein übrigens auch Spitzenspieler wie Sepp Herberger, dessen (wegen des Amateurparagrafen illegales) Gehalt zwischen 1926 und 1930, als er während seines Studiums in Berlin bei TeBe spielte, über den Umweg eines Bankangestelltenvertrages bezahlt wurde.9 Zur Aufklärung: Die beiden Inhaber des betreffenden Geldinstituts, Michaelis und Berglas, waren ebenfalls Mitglieder bei TeBe. Lesser belebte außerdem mit großem Einsatz 1926 die Boxabteilung, die bald zu den besten in Berlin gehörte und mit dem Juden Erich Seelig sogar einen mehrfachen deutschen Meister stellte. Aber Lesser entsprach nicht allein dem antisemitischen Stereotyp eines jüdischen Impresarios und »Schiebers hinter den Kulissen«, sondern er war eben auch mit Leib und Seele Sportler; lange spielte er, der berüchtigt war wegen seines Ehrgeizes, Fußball in der ersten Mannschaft, später bei den Alten Herren.
Bereits im Kaiserreich haftete dem Verein, der 1910 erstmals in die höchste Berliner Klasse aufstieg, durch Mitglieder wie Lesser ein nobles Image an, er besaß zweifelsohne eine Sonderstellung unter den Berliner Vereinen im Norden. Die »innere Struktur des Clubs« um 1910, erinnerte sich Trainer Richard Girulatis in der Festschrift des Vereins anno 1952, war schließlich »bestimmt durch eine ganze Anzahl wohlhabender Mitglieder«. Beleg dafür ist auch ein Bonmot, das seinerzeit die Runde machte. Als die Borussia in einem entscheidenden Spiel um die Klassenmeisterschaft den Rivalen