Am späten Nachmittage betrat ich vom Ringe her den Burgberg, um nach Hause zu gehen. Die Sonne stand schon geneigt und der lange, unförmige Schatten des Wartturmes erfüllte die enge Straße. Da kam es mir in den Sinn, wie schön es sein müsse, hoch da droben hinter dem Mauerkranze zu stehen, der um den vieleckigen, plumpen Zuckerhut der Spitze lief und über das Gewirr der Dächer unter mir den fernen Tanz der blauen Berge zu betrachten. Ich erinnerte mich auch, daß es für den alten Willmann keine liebere Freude gebe, als den Besuch eines jungen Menschen, sei es Männlein oder Weiblein. Allerdings hatte ich auch gehört, daß der Zudrang des jungen Volkes sehr nachgelassen habe, seit der frohe Alte einem hübschen Bürgertöchterlein einen Kuß geraubt und mit den Burschen allerlei, wie die Leute sagten »albernes Gerede« geführt habe. Da ich vor dem einen sicher war und das andere nicht fürchtete, sprang ich bald die enge Steinstiege empor, die steil an dem alten Gemäuer hinaufkletterte und vor dem niedrigen Pförtchen endete, das, über der Mitte der Torwölbung, unter den Ranken wilden Weines verborgen war. Die Tür versperrte ein klapperndes Schloß, und auf mein Klopfen und Rütteln hörte ich rostige Angeln kreischen. Schwere Schritte näherten sich auf hohlliegenden Brettern und standen an der Pforte still. »Wer draußen?« fragte eine volle, gesunde Stimme. »Ich!« antwortete ich törichterweise. »Gar nicht übel!« verhöhnte mich der Alte. »Aber, Mann oder Weib?« – »Ein Bursche!« beschied ich ihn. »Na also!« Mit diesen Worten, die unter Lachen gesprochen wurden, öffnete der Greis das Pförtchen weit und ließ seine lebhaften, schwarzen Augen Prüfend über mich hingleiten. »Sie werden verzeihen, Herr Willmann...« wollte ich meine Anrede beginnen. Aber er schüttelte seinen großen, ausdrucksvollen Kopf und sagte lächelnd: »Und so fort. Kenn' ich schon! Also spazieren Sie herein.« Er trat beiseite und schrillte das Schloß wieder zu. Wir standen in einer hohen Finsternis, in der, uns gegenüber, ein viereckiges Stück blauen Himmels hing. Es war die Öffnung, welche hinaus an den Mauerkranz führte. Rechts neben uns, kaum drei Armlängen entfernt, stand die kleine Tür zu dem Wohngemach offen, das im halben Dämmern lag, als habe sich darin das graue Licht einer längst vergangenen Zeit erhalten. Dort hinein wollte ich. Der Alte hielt mich am Arm zurück. »Vorn herein und hinten raus.« sagte er. »ganz wie im Leben.« Er schritt vor mir hin, bog und schwang sich mühelos durch die Luke hinaus. Und dabei war der Greis weit über achtzig. Möglichst geschickt wand ich mich ihm nach, ohne seine Hand zu ergreifen, die er mir von oben entgegenstreckte. Dann lichtete ich mit lachendem Aufatmen mich neben ihm auf. Ich bin seit meinem siebzehnten Jahre nicht mehr gewachsen, und so reichte ich dem hünenhaften Greise bis an die Schultern.
Mit großer Freude musterte er mich abermals, klopfte mir auf die Achsel und sagte strahlend: »Schön, schön! Gut, sehr gut! Sie heißen Schnabel?« fragte er dann.
»Nein. Faber.«
»Oh. Faber? des Sattlers? Da sind wir ja Nachbarn!«
»Ja. Ich habe Sie heute am Morgen unter den Emmausjüngern gesehen. Da bekam ich Lust, Sie kennenzulernen.«
»Bloß deswegen?« fragte er ironisch.
»Nicht allein«, antwortete ich etwas betreten. »Schon als Knabe habe ich mich gesehnt, hier oben zu stehen und über alles hinzublicken.«
Dann bog ich mich über einen Mauerzacken und starrte angestrengt hinunter, denn ich wollte den Alten hindern, über unsere Familie zu sprechen. Die verwitterten Dächer der Häuser, regellos durcheinander und übereinander geschoben, sahen aus wie die Rücken großer Schildkröten, die in Muße über den steilen Berg hinunterkrochen, um in den Wassern der Neiße unterzutauchen, die schwarz und still drunten vorüberzogen. Rund um die Stadt stieg das Land in langgestreckten Hügeln empor, als eile es, sich von den grauen Mauern der Stadt zu den fernen Bergen fortzuschwingen, damit es nicht auch gebändigt und von Dächern vergraben werde. Tiefblau, groß und ruhig wallte das Gebirge weit draußen vorüber. Da räusperte sich der alte Willmann hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich in seine sinnenden Augen und erkannte, daß er mich die ganze Zeit über betrachtet habe. Er nickte mir freundlich zu und rückte auf dem kleinen Bänkchen hin, daß ich neben ihm Platz nehme. Der Gang, der, von den Mauerzacken gegen die Tiefe geschützt, um die hohe, pyramidenförmige Spitze lief, war nicht breiter als zwei Schritte und dazu noch kurze. Seine innere Hälfte nahmen zierliche Beete ein. Sie waren peinlich sauber gehalten und trugen an manchen Stellen schon frisches Grün.
Dann redeten wir dies und das von seiner Arbeit an dem seltenen Gärtchen. und er behauptete, daß ihm die Mühe gar keine Beschwerde bereite, weil das Alter nicht mehr so ungeduldig sei, die Handgriffe zu zählen.
»Wissen Sie, und die Blumen gedeihen hier droben besser, weil sie der Sonne näher gehoben sind. Denn je tiefer das Licht hinunterlangen muß an die Erde, desto mehr entartet es«, sagte er nach einer Pause, in der ich, abgewandt, wieder sein sinnendes Auge auf mich gefühlt hatte. Aber aus seiner Stimme war nun die forcierte Borstigkeit geschwunden; sie hatte einen weichen, tiefen Klang. Mit unauffälligem Erstaunen kehrte ich mich zu ihm und war überrascht von der milden Schönheit seines Gesichtes, in dem die Augen voll jener fernhinzielenden Träumerei lagen, die nur ein reines Alter entzünden kann.
»Sagen Sie mal,« begann er nach wohligem Säumen, »warum bin ich Ihnen denn heute morgen aufgefallen?«
»Na, Herr Willmann ... Sie trugen Ihre schönen, weißen Haare über all den Alten und Müden wie, wie eine Siegerfahne«, antwortete ich, plötzlich von einem rätselhaften Schwung gepackt.
»Das wollte ich nicht hören, junger Mann.« sagte er, betroffen zur Erde schauend, »das nicht! Aber Sie mögen wegen Ihrer Augen recht haben und denken, das Geblase und Geläut hat mir den Kopf gereckt. Ja, sehen Sie. und es ist dann auch etwas Wahres darin, es hat mir wirklich den Kopf gehoben – aber, weil es ihn mir nicht gehoben hat.«
In seine Züge kam eine große Leidenschaftlichkeit. Plötzlich erhob er sich wie fliehend, trat an die Mauerbrüstung und wendete sein Gesicht ab, dem Gebirge zu. Als er sich wieder neben mir niederließ, hatte die stille Heiterkeit aufs neue Besitz von ihm genommen, und in sich hineingesprächelnd sagte er: »Komisch, wie die frühe Jugend und das späte Menschenalter sich gleichen; beiden siedet das Wasser in der hohlen Hand. Aber wir Weißen lassen es nicht überlaufen. Das ist der einzige Unterschied.«
Ich glaubte ihn zu verstehen und antwortete: »Sie mögen mit Ihrem Mißtrauen recht haben, Herr Willmann. Allein ich würde die verspritzten Tropfen nicht nehmen, unter die Leute gehen und sagen, das hat der alte Herr getan.«
»Wie alt sind Sie?« fragte er darauf.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Denn der meisten Leute Alter entspricht wohl nicht ihren Jahren, sind sie erst aus den Kinderschuhen heraus.«
»Sie meinen, wenn Menschen geboren werden, so ist es, als ob ein Handwerker zu seiner unterbrochenen Arbeit in die Werkstatt zurückkehrt?« fragte der Greis mit großen Augen.
»Ja,« sprach ich, »oder vielleicht wie ein junger Vogel schon dem Himmel näher ist, wenn er sein Nest verläßt, das auf einem Baume oder Berge gebaut ist.«
»Himmel?« fragte der Alte skeptisch. »Wo ist der Himmel?«
Ich hob die Hand und wies hinaus.
»Weil es das Lichte und Helle ist. Nicht wahr«, sagte Willmann und nickte. –
So saßen und redeten wir, und ich wurde von der Weite dieser alten Seele immer mehr über mich hinausgeführt und tauchte oft mit so fremden, fernen Worten vor mir auf, daß ich ganz verwundert war.
Als das Not über den Bergen schwamm, trieb ich wie im Rausch und mußte verstummen. Auch der alte Willmann saß schweigend