Doch was nutzt es?
Der Zwang des Blutes liegt über jedem Menschenleben. Geschehnisse regeln den Gang dieser geheimnisvollen Uhr, die in der unverantwortlichen Kinderzeit, wohl gar vor der Geburt über uns hereinbrechen. Der »freie Wille« ist nichts als der zu spät erscheinende Doktor, der an dem Bette des Kranken irgendein unheilbares Leiden konstatieren kann. Denn das Schicksal kennt keine Diät. Auf irgendeine Weise sind alle Menschen Krüppel.
– – – Wie oft habe ich dieses Delirium halber Wahrheiten durchgemacht! – Aber wenn man ins Reden kommt, arbeitet man wie eine schlecht gestellte Mühle, die ganze Körner, feines Mehl, Schrot und Schalen durcheinander wiedergibt, und geht meine Erzählung so weiter, wirst du nicht klar, Kastner, und mir hilft es nichts.
Darum muß ich schon wieder hübsch chronologisch verfahren.
Die Aspirantenprüfung, das Aufnahmeverfahren in das Lehrerseminar meiner Vaterstadt, war vorüber, und die große Schar der Vielgezwickten saß voll Spannung in einem kleinen Klassenzimmer zusammengepfercht. Der tiefe Abend sog immer mehr Licht ein, und schon glich die Reihe der jungen Ahornkronen vor dem Seminargebäude einem Zug dichter Wolkenballen, die hart am Boden lagen. Man hatte mich arg hin und her geschüttelt und gesiebt, und ich hockte auf meinem Platz, von einer Niedergeschlagenheit erfüllt, die doch im Tiefsten nicht ganz ernst war. Denn, daß ich mich im Rechnen so unsäglich taperig benommen und endlich zur Verzweiflung des Herrn Malchow das Viertel von 766 nicht mehr herausgebracht hatte, belastete mich vor allem mit einer bitteren Verfinsterung aus verletztem Stolz, weil einige über mich gelacht hatten, als sei ich ein Blödling. Und ich begann das geduckte Geplauder der vielen jungen Menschen um mich unausstehlich zu finden, die in dem tiefen Dunkel unnatürlich aufgedunsene Köpfe hatten. »'s wird, was wird, und wenn's ein Entrich wird!« schrie plötzlich ein Übermütiger aus dem Hintergrunde, aus der Gegend des Kleiderrechens, und brach in ein Gelächter aus, in das die meisten wie erlöst einstimmten. In diesem Augenblick wurde die Tür vom erleuchteten Korridor aus geöffnet. Die Helle blähte sich wie ein roter Vorhang in das Dunkel, und eine grillige Männerstimme lief irgend etwas herein. Dann prallte die Tür wieder zu. Von den ersten Bänken aus wurde die Aufforderung zur Ruhe weitergegeben, und alle saßen beengter als vorher. Aus ihren Körpern stieg eine schwere Wärme, daß es war, als atme man in der Nähe eines heißen Ofens. Mein Nebenmann, der bisher andauernd und hastig auf seinen Nachbar eingeredet hatte, saß, die Hände auf dem Pultbrett gefaltet, mausstill, wie ein ausgezankter Schüler. Es war ein dürftiges, banddünnes Bürschchen, eher ein Junge, und ich merkte, wie ihn jetzt, da er schweigen mußte, die Angst zusammenzog. Eben, als ich ihn mit einem Blick streifte, hob er das Gesicht zu mir und sagte tonlos: »Ich habe nur noch eine Mutter!« Dann starrte er wieder regungslos auf seine zusammengegriffenen Hände, die wie ein graues Häufchen vor ihm im Verfinstern lagen. Aber ich gab ihm auf seine Worte, die er auch gesprochen haben würde, wenn er mutterseelenallein gesessen hätte, keine Antwort außer einem Brummlaut, sondern überließ mich meiner Sorge um den Ausfall der Prüfung. Je genauer ich mir alle ihre Phasen ins Gedächtnis zurücklief, desto ungünstiger erschien die Rolle, die ich gespielt hatte, und gegen einen negativen Erfolg ließen sich keine Gründe aufbringen. Nun, dann wurde ich eben Post- oder Bahnmensch, oder trat bei einem Maurermeister ein. Tausend Sachen! Meine Einbildung bemächtigte sich dieses Faktums wie einer ersehnten Tatsache. Mir gelang nicht die mindeste Trauer, auch als die bekümmerten Gesichter von Vater und Mutter vor mir auftauchten. Fort, fort! Ich stand auf, trat ans Fenster und lehnte die Stirn an die kalte Scheibe. Der Florianiberg hob seinen langen Rücken gelassen ins Grau des Nachthimmels. Hinter dem Dach der kleinen Kirche glomm der rote Mond herauf, daß es aussah, als bräche Feuer aus ihrem First. Gut, ein Ende! sagte ich zu mir und begab mich auf meinen Platz. Kaum hatte ich mich gesetzt, so stieß mich der Kleine an den Arm. Entschuldigte sich furchtsam und fragte, ob Musik und zwei Realfächer ein Hauptfach ausmachten. Ehe ich antworten konnte, ging die Tür auf, und bald stand der Direktor, einen Bogen Papier in der Hand, zwischen zwei Kerzenlichtern auf dem Katheder. Rechts, in der Haltung eines preußischen Gendarms, hatte sich ein großer, ungefügiger Mann postiert, links schwankte aus dem Dunkel ein langes, schmales Männchen mit zwei breiten Nagezähnen und glastenden, großen Brillengläsern. Der Direktor, Dr. Bode, drückte seinen dicken, dicht behaarten Graukopf tief aufs Papier und las nach einigen einleitenden Worten die Namen aller, die durch das Examen gekommen waren. Wir saßen wie angewachsen. Mein kleiner Nachbar lag auf seinen Armen. Ich war seelenruhig, und während die schüchtern gute Stimme des Doktor Bode durch unsere Reihen stöberte, da und dort einen Laut der Freude weckend, mußte ich daran denken, welche Ähnlichkeit diese Szene mit der Investitur der »ewigen Brüderschaft« habe. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn irgendeiner der Auserlesenen statt seines froh-erschrockenen »Hier!« ein feierliches »Amozim!« gerufen hätte. Da klang auch mein Name wie durch eine fremde Schicht gedämpft an mein Ohr, und ich spürte einen kleinen inneren Schlag gegen mich geführt, der als schwaches Nieseln wie eine Gänsehaut über meinen Körper lief. Dann wurde ich matt wie nach einem Wettlauf, lehnte mich zurück und zog mir die Weste herunter. Doktor Bode schwieg, und der Raum war peinvoll still von dem Schmerz der Entgleisten. Der Kleine neben mir, dessen Name nicht genannt worden war, hatte sich von seinen Armen erhoben, saß holzsteif da und blickte starr auf die roten Lichter des Katheders. Dabei sah ich den großen Drosselknoten seines dünnen Halses auf- und niedersteigen, wie bei einem, der vor großer Angst schluckt. Plötzlich stieß er den Pfeiflaut eines sterbenden Hasen aus und sank dann wieder auf seine Arme. »Seien Sie doch kein Kind.« sagte ich in sein Ohr und legte meine Hand auf seinen Rücken, »da machen Sie eben in sechs Monaten das Rennen noch mal!« Aber er erwiderte nichts, sondern lag ganz aufgelöst auf dem Pult und wurde von stummem Schluchzen gerüttelt. Ich wußte nicht, wie ich ihm eine Freude machen sollte und steckte nach einigem Überlegen mein letztes Fünfzigpfennigstück verstohlen in seine Billetttasche. Zwischen den zwei Kerzenlichtern des Katheders floß indessen monoton die Stimme des Direktors, der ich nur halb lauschte. Plötzlich, wie mir schien, ganz unvermittelt, erhob sich alles mit Getöse und drängte dem Ausgang zu. Ich zog mich zurück, und während der Schwarm an der Tür sich immer wieder festkeilte, sah ich durch das Fenster und sann, nur um mir auszuweichen, nach, was Dr. Bode gesagt hatte: Außer einer undeutlichen Vorstellung davon, dem Seminar meiner Vaterstadt überwiesen zu sein, war nichts in meinem Gedächtnis haften geblieben. Als letzter trat ich endlich auch den Heimweg an. Die Schatten der Ahornkronen lagen wie undeutliche Heuhaufen auf dem graugelben Platz. Der Mond hing gleich einem roten Papierlampion über dem Florianiberge. Auf dem Wege knirschten die Schritte der Davongehenden in die Nacht hinaus, sicher und froh. Mich aber überkam ein so klägliches Gefühl, daß ich versucht war, über den Rasen zu schleichen und mich in den Schatten der Strauchgruppe hinzulegen und in die Nacht hinaufzustarren. Aber aus dem Seminargebäude drang ein leerer, endloser Laut, wie das Sausen ferner Spinnspulen, dann und wann von dem Klang einer ausgespielten Orgel wie von singendem Schluchzen unterbrochen; hinter den geschlossenen, verhängten Fenstern der Seminarwohnungen huschten manchmal Schatten vorüber. Das trieb mich davon. Doch je weiter ich kam, desto mehr überfiel mich eine solche Ratlosigkeit, als stehe ich verirrt in einem fremden, unbekannten Lande. Im grellen Scheine eines erleuchteten Schaufensters hob ich mein Gesicht und sah vor mir zwei junge Mädchen gehen, eine Blonde und eine Braune. Die Blonde, schlank und biegsam, hatte ihren rechten Arm um die Taille der Freundin gelegt, und während sie lachend mit ihr plauderte, ging sie so ruhig, daß sich der lange Zopf kaum auf ihrem Rücken rührte. Als ich das bemerkte, mußte ich an meine Schwester Anna denken. Gerade so war auch sie gegangen, und so gelassen wie die Fremde, hatte auch sie den linken Arm mit der weißen, halboffenen Hand immer herabhängen lassen. And wie ich auf diese schöne, weiße Hand mit den schlanken Fingern blicke, die immer erlischt und wieder im Licht aufflimmert, kommt mir die Empfindung, wenn ich hinginge und sie ergriffe, wäre alles gut. Aber bei diesem Gedanken wird mir plötzlich heiß, und das Herz klopft mir bis in den Hals hinauf. Im Schein einer Straßenlaterne wagte ich endlich vorüberzugehen,