Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
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grandiosen Festmusik.

      Dieses alles genossen wir miteinander, und gerade der Alte war unerschöpflich in Bildern, die tief in den Zauber des Herbstes fühlten, dieses Abendrot des Jahres. Plötzlich faßte er meine Hand und sagte: »Weißt du, mein lieber Junge, du bist doch nicht böse, daß ich so spreche?«

      Ich schüttelte mit glücklichem Lächeln den Kopf und erwiderte den Druck der alten, bebenden Hand herzlich.

      »Weißt du,« sprach er, »wenn man als alter Mann so sitzt und sieht, so fühlt man, daß einen das Leben doch nicht umsonst getrieben und gejagt hat, und daß das Dasein des Menschen doch einen hohen Sinn hat, der freilich anders ist als der, welcher die Menge führt.«

      Ich fragte, wie er das meine. Er sann einen Augenblick und bewegte dann abwehrend den Kopf. Nach einer Weile stillen Überlegens begann der Greis aus seinem Leben zu erzählen.

      Er stammte aus einem jener kleinen Häuser am Stadtgraben, die furchtsam, enganeinandergeschachtelt den Uferrand der Neiße entlang stehen und wie in weltabgewandter Demut sich kaum getrauen, nach der Straße zu ein Fenster zu kriegen. Nach der Neiße zu trieben sie lauschige Altanen, um in ihrem Schutze mit vielen Fenstern, wie mit stillen, verwundert-horchenden Augen über das Wasser drunten zu sehen. Sie standen damals so und haben sich heut wohl noch nicht geändert. In einem dieser Häuser wohnte Willmanns Vater, der Stadtschreiber und Vertraute des damaligen Bürgermeisters von Euen, in seinen guten Jahren ein hoher, fröhlich-strenger Mann. Wäre der Einfall der Franzosen nach der unglücklichen Auerstädter Schlacht nicht gewesen, er hätte sein Leben wie seinen Rock glatt gebürstet bis zum Tode. Nun erschienen Jeromes Franzosen, Bayern und Sachsen auch in unserer Gegend und schrieben von ihrem Hauptquartier zu Pischkowitz Kontributionen in der ganzen Umgegend aus. Das war so um das Jahr 1807. And während alle Bürgermeister und Schulzen den Eindringlingen alles nach Willen erfüllten, fiel ihnen Heisterbergs Oberhaupt, der Herr von Euen, durch Querulieren, Harthörigkeit und verletzliche Gehorsamtuerei so beschwerlich, daß ihm eines Tages der Befehl zuging, vor dem französischen General zur Verantwortung zu erscheinen. Der Stadtschreiber Willmann, in dem man die Haupttriebfeder zu allen Ärgerlichkeiten vermutete, mußte mit ihm gehen. Was dort auf dem Schlosse zu Pischkowitz geschehen ist, wird nie ganz aufgeklärt werden. Der fremde General, ein roher, äußerst gewalttätiger Patron, schlug den Herrn von Euen vor seinem Gefolge ins Gesicht und ließ ihm außerdem 30 Stockhiebe verabreichen. Dem verhaßten Stadtschreiber spielte man wohl noch übler mit. Bei Nacht und Nebel kamen die beiden wieder zu Hause an. Wochenlang hielt sich Willmann vor seinem Weibe und seinem einzigen Sohne verborgen, ging nicht aufs Rathaus und war durch kein Bitten und keine Tränen zu bewegen, sein Zimmer zu verlassen, in das er sich, durch den Türspalt, das Essen reichen ließ. Als er sich endlich wieder herauswagte und, den blauen Aktendeckel unterm Arm, dem Rathause zuschritt, war er ein verwandelter Wann. Die Augen scheu gesenkt, die Schultern hängend, den Rücken gekrümmt, die Brust eingeklemmt, scheu und zusammengehüfelt, stöberte er umher. Nach Monaten mußte er aus seinem Amte scheiden, weil es sich zeigte, daß sein Geist Schaden gelitten hatte. Nun saß er an seinem Schreibtisch und arbeitete vom Morgen bis in die Nacht ohne Unterlaß. Oft hörte man ihn mit lauter, befehlender Stimme sprechen, als verlese er ein langes, diatonisches Gesetz. Als die Nachricht von dem Sieg bei Leipzig ihn erreichte, starb er vor Freude. In seinem Nachlaß fand man in unzähligen Abschriften den »Entwurf einer Verfassung, die das Volk vor der Bedrückung durch Tyrannen zu schützen geeignet ist«. Die Frau verkaufte das Haus und zog zu ihren Eltern hoch ins Gebirge. Der junge Willmann kam zu einem Feinmechaniker nach Prag in die Lehre.

      Die Auflösung, die damals ganz Europa ergriffen hatte, die Unruhe und Zerrüttung seiner Familie steckte ihm im Blute, und als er es in seinem Handwerk zur größten Geschicklichkeit gebracht hatte, riß es ihm die Augen von der Lupe weg und lenkte sie in die große Welt. Ein abenteuerlicher Wagemut trieb ihn aus der Metternichschen Stickluft überall dahin, wo ein Volk sein Leben gegen die Unterdrückung für die Freiheit einsetzte. Er kämpfte mit den weißen Burschen gegen die Engländer; rannte hinter dem Revolutionsruf des alten Lafayette durch die Straßen von Paris, vagabondierte mit den Carbonari in Italien umher, diente im Solde des Schweizerischen Siebener-Konkordats und exerzierte endlich unter Bem, schon ergraut, in seinem letzten verzweifelten Freiheitsdrange, vor den Toren Wiens. Aber auch hier brach die Sache seiner heiligsten Hoffnung durch den Kleinmut, die Uneinigkeit und aufgeblasene Torheit der meisten Freiheitshelden zusammen. Windischgrätz fegte sie von den Gassen und kehrte sie mit eisernem Besen in die Kerker. An dem Tage, an dem Blum erschossen wurde, hockte Willmann mit anderen in der verrammelten Stube eines Hinterhauses auf der Kettenbrücke, finster, verbittert und hörte schweigend dem Zank und den kindischen Prahlereien zu, mit denen die Mutlosen ihre geheime Furcht zu verbergen trachteten. Als der Tag glücklich vergangen war, ohne daß ein Gewehrkolben gegen die Tür geschmettert hatte, in der Nacht, wagten sie endlich aufzuatmen. Nun schleppten die Weiber Essen und Wein aus der nächsten Taverne, und es begann ein übermütiges, unbesorgtes Schmausen und Trinken, wie wenn alles auf das Beste gelungen sei. Da schrieb Willmann mit zornbebendem Finger das Wort »Dreck!« in den Staub auf den Deckel eines Klaviers und schlich hinaus. In dieser Nacht kam ihm die Erkenntnis, daß der Mensch sich erst innerlich frei machen müsse von Wahn, Niedrigkeit, Enge und Irrtum, dann fallen endlich alle äußeren Fesseln von selbst. Nun begann eine Periode innerer Erlebnisse, während er mit Anspannung aller Kräfte für die Sicherstellung des nahenden Alters zu sorgen begann. Er wandte sich dem Maschinenbau zu und sah sich nach zwei Jahrzehnten im Besitz eines Vermögens, das ihn aller Not überhob.

      »Nun sitze ich«, so schloß er seine Erzählung, »an dem Ort, von dem ich ausgegangen bin, ledig der meisten Fesseln. Die Leute kennen mich nicht, und ich begreife selbst oft nicht, wer ich bin. Aber wenn Abende glänzen, wie der unter uns, an denen der Tag so bunt und heiter zu Tode kommt, dann fühle ich mich geborgen in meinen Augen, die durch tausend Erblindungen in wunscharme Klarheit gerettet wurden.«

      Dann erhob er sich und schaute lächelnd auf das Gewimmel der Spaziergänger, das unter dem Turm verschwand und aus der Torwölbung quoll. Als er sich wieder zu mir kehrte, fragte ich: »Herr Willmann, und welches ist der Sinn des Lebens?«

      Da antwortete er mit gütigem Ernst: »Mein Junge, das darfst du fragen; aber ich darf nicht antworten. Noch nicht. Vielleicht später. Vielleicht auch nicht.« – Traurig darüber, daß mich der Greis doch nicht seines ganzen Vertrauens würdigte, ging ich davon.

      – – – – – – –

      Ich hätte müssen kein Jüngling sein, wäre des alten Willmanns Erzählung spurlos an mir vorübergegangen. Aber die tollen Abenteuer des greisen Revolutionärs warfen meine Phantasie doch nicht zu sehr aus der gewohnten Bahn, denn unser ganzes Haus war ja voll von, wenn auch siecher, Unbeugsamkeit, und in mir selbst kochte der Freiheitsdurst wie eine verschüttete heiße Quelle. In jener Zeit drangen auch die ersten Nachrichten von dem Schicksal meines Großvaters an mein Ohr. So kam es, daß ich in manchen Augenblicken träumte, mein Ahne sei gar nicht in dem Kampf bei Waghäusel umgekommen, sondern habe sich unter fremdem Namen seiner Familie nachgeschlichen und sitze nun als der Alte vom Turm in dem Schutze einer grotesken Vergangenheit uns nahe und wache über unser Wohl. Seltsam war ja auch Willmanns fast väterliche Zärtlichkeit zu mir, die noch immer zunahm. Wenn ich aber mit neugierigen Fragen um sein Geheimnis schlich, wurde er plötzlich der fremde Wann, fern, hart, sogar feindselig. Tage lag dann Schwermut und Kummer über ihm, und sein Blick wirkte wie eine schmerzvolle Drohung. Hatte er mich gründlich verscheucht, so blühte nur seine Güte doppelt rührend, und ich fühlte gar bald, daß die kleinen Überraschungen, mit denen der Greis mich neckend erfreute, den Zweck hatten, den Nachhall seiner Härte schneller in mir zu verwischen.

      Mit dem Einsetzen der kalten Jahreszeit brach unser Verkehr ab. Der Schnee duldete kein Verweilen hinter dem Mauerkranze, und mit derselben heiteren Festigkeit, wie am ersten Tage, verwehrte mir der wunderliche Alte den Eintritt in sein niedriges Stübchen. Er tat das mit vielen gewaltsamen, humorvollen Gründen, hielt mir in der hohen Finsternis der plumpen Spitze eine Art feierlicher Rede, gab mir allerlei gute Räte für den Winter und verabschiedete sich, unvermutet in schweren Ernst verfallend, mit ein paar bebenden Worten und dem herzlichen Druck seiner kalten, zitternden Hände. Er schob mich eilig durch das Pförtchen und kreischte sofort das Schloß ein. Verblüfft stand ich unter dem Vordächlein