Der Schatten des anderen. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718551
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wie er sagte: »Sie sind nicht unintelligent, Fräulein Horn, aber Sie lassen es an dem nötigen Wissensdurst fehlen. Um die soziologischen Zusammenhänge unseres Daseins zu erforschen, braucht man eine tüchtige Portion persönlicher Neugier — das ist es, was ich meinen Studenten immer wieder einzuprägen versuche.«

      Das Einfachste wäre es natürlich gewesen, bei dem Eintrittskartenbüro rückzufragen, um wen es sich bei dem geheimnisvollen Auftraggeber handle. Aber dazu blieb keine Zeit mehr. Die Quizsendung sollte am nächsten Sonntagabend, also in drei Tagen, stattfinden. Auf Renates Drängen hin entschloß ich mich, gegen mein erstes Gefühl, hinzufahren. Schließlich riskierte ich nichts. Ich rechnete mir aus, daß die Fernsehsendung um ungefähr zweiundzwanzig Uhr beendet sein würde, ich konnte also gut und gern mit dem Nachtzug um dreiundzwanzig Uhr vier zurückfahren.

      Zwanzig Minuten vor Beginn der Fernsehsendung betrat ich das Funkhaus. Mein Zug war sechzehn Minuten nach sieben auf dem Südbahnhof eingelaufen, die wenigen Stationen bis zum Funkhaus hatte ich mit der Straßenbahn zurückgelegt. Jetzt blieb mir reichlich Zeit, mich in der Toilette zurechtzumachen.

      Ich selbst wäre am liebsten in Hose und Pullover gefahren, aber Renate hatte darauf bestanden, daß ich mein flaschengrünes Wollkleid anzog, von dem ich immer behauptete, daß es mir am besten von allen meinen Sachen stünde. Es war gerade geschnitten, schmiegte sich eng an meinen Körper und brachte meine Formen — soweit man bei mir von so etwas überhaupt reden kann, denn ich bin sehr schlank — zur Geltung. Mein schwarzes Haar, das ich gewöhnlich mit einer leichten Innenrolle bis auf die Schultern herabfallend trage, hatte ich mir für den besonderen Anlaß aufgesteckt. Jetzt vor dem Spiegel im Toilettenraum des Funkhauses stellte ich fest, daß mich diese Frisur doch zu alt machte, und kämmte mir das Haar wieder herunter.

      Ich hatte mir die Wimpern getuscht und nach oben gebürstet, die Augenbrauen leicht nachgezogen, jetzt tönte ich mir mit Renates apfelsinenfarbenem Lippenstift den Mund. Wie immer, wenn ich mich im Spiegel betrachtete, fand ich mich eigentlich recht hübsch — meine großen, weit auseinanderstehenden Augen liegen über hohen Backenknochen, die meinem Gesicht etwas Exotisches geben. Der Eindruck der leicht gewölbten breiten Stirn wird durch den spitzen Haaransatz gemildert, der mein Gesicht herzförmig erscheinen läßt, wie man in Romanen zu sagen pflegt. Meine Nase und mein Mund sind vielleicht etwas zu groß, aber gut geschnitten — kurzum, im großen und ganzen gesehen, kann ich mit mir zufrieden sein.

      Ich weiß nicht, ob ich Charme habe — aber manchmal kommt es mir fast so vor —, aber Sex-Appeal habe ich bestimmt nicht. Für die Jungen, die ich kenne, bin ich ein »netter Kerl«. Ich bin allgemein beliebt, aber niemand würde sich für mich ein Bein ausreißen. Vielleicht liegt es einfach daran, daß ich falsch erzogen worden bin. Wenn ich eine Schwester Zsa Zsa Gabors wäre, hätte mir meine Mutter wahrscheinlich Tips gegeben, wie man die Männer beeindrucken und an der Nase herumführen kann. Aber ich stammte aus einer gutbürgerlichen, dazu noch glücklichen Ehe und — was wahrscheinlich das Schlimmste ist — habe vier Brüder. Zwei davon sind älter als ich, zwei jünger. In Romanen pflegen Brüder ihr einziges Schwesterlein zu beschützen und zu verwöhnen, die rauhe Wirklichkeit sieht anders aus. Meine Brüder haben mich immer als ihresgleichen behandelt, sie rauften und boxten mit mir herum, und wahrscheinlich hat diese Behandlung von vornherein jeden Keim von Sex-Appeal in mir erstickt.

      Ich wurde in meinen trüben Betrachtungen vor dem Spiegel von zwei schwatzenden Freundinnen gestört, die gleich mir in den Toilettenraum geeilt waren, um letzte Hand an ihre Schönheit zu legen. Ich hielt es für angebracht, meinen Platz freizumachen, und machte mich auf den Weg zum Funksaal.

      Es war ein riesiger Raum, und ich blieb eine Weile in der Eingangstür stehen, um jede Einzelheit wahrzunehmen. Die Plätze waren amphitheatralisch ansteigend angeordnet. Riesige Scheinwerfer hingen jetzt noch glanzlos und tot an der Decke. Ich zählte fünf Kameras, an denen Männer in Overalls herummanipulierten. Durch den Mittelgang waren Schienen gelegt, auf denen die größte der Kameras vor und zurück fahren konnte.

      Die ersten Zuschauer begannen in den Raum hineinzusickern, ich wurde von ihnen gepufft und hielt es für besser, mich nach meinem Platz umzuschauen. Ich hatte schon zu Hause festgestellt, daß ich in der vierten Reihe saß, jetzt zeigte mir die livrierte Platzanweiserin meinen Sitz — er lag direkt am Mittelgang. Mir war etwas unbehaglich zumute, als ich Platz nahm, denn ich hatte das Gefühl, wie auf dem Präsentierteller zu sitzen. Dann beruhigte ich mich bei dem Gedanken, daß die Aufgabe der Kameraleute ja nicht darin bestehen konnte, das Publikum zu filmen, und daß Hans Ullrich Garden oben im Scheinwerferlicht mich auf meinem exponierten Platz sicher gar nicht bemerken konnte. Meine Reihe war fast noch leer, und mit einiger Spannung wartete ich darauf, wer sich neben mich setzen würde. Falls die Idee, mir eine Eintrittskarte zu schicken, von Pützchen oder Peter ausgeheckt worden war, mußte einer der beiden Knaben bestimmt gleich erscheinen. Aber nichts dergleichen geschah. Statt dessen setzte sich ein rundliches Ehepaar mittleren Alters neben mich.

      Meine Nervosität wuchs. Ich hatte plötzlich das Gefühl, in eine Falle gelockt worden zu sein. Verzweifelt klammerte ich mich an den Gedanken, daß Professor Gahlen mir die Eintrittskarte hatte zukommen lassen. Aber wenn er das wirklich getan hatte, warum hatte er mich nicht darauf vorbereitet? Mir war gar nicht wohl zumute.

      Der Funksaal füllte sich sehr rasch, und mit dem Einströmen der Zuschauer wich meine Beklemmung. Ich duckte mich auf meinem Sitz zusammen, genoß das beruhigende Gefühl, in der Masse der Menschen unterzutauchen.

      Links von der Bühne, auf einem erhöhten Podium, nahmen die Mannen des Tanzorchesters Bert Bünger Platz. Sie trugen alle die gleichen weißen Hosen und roten Jacketts. Der Name des Dirigenten war mit deutlich lesbaren weißen Buchstaben auf Schilder geprägt, die vor jedem der Musiker standen.

      Als Bert Bünger persönlich erschien, geschah das mit solcher Fixigkeit, daß die wenigsten überhaupt begriffen, was vor sich ging. Mit wenigen Schritten stand er vor seinen Musikern, riß beide Arme hoch, und ein Begrüßungstusch erfüllte mit voller Lautstärke den großen Saal. Der Tusch ging in eine Art Kennmelodie über.

      Dem Publikum blieb kaum Zeit zu klatschen, denn während die letzten Takte Musik noch nicht verklungen waren, trat schon die Fernsehansagerin — bescheiden strahlend wie jemand, der eine wunderbare Überraschung, diskret verpackt, überreichen darf — vor das Mikrofon und sagte die Veranstaltung an. Die große Kamera fuhr den Mittelgang näher und näher an sie heran, während sie mit geheimnisvollem Lächeln die mitwirkenden Sänger, Musiker und Artisten aufzählte. Dann hob sie die Stimme und sagte: »,Lachen ist gesund’ — von und mit …« Ihre Stimme hob sich fast zu einem Stakkato, gleichzeitig setzte ein gewaltiger Trommelwirbel ein wie vor einer Artistensensation, die Bühne verdunkelte sich bis auf ein grelles Spotlight neben dem Mikrofon.

      »… Hans Ullrich Garden!«

      Bei der Nennung dieses Namens, die wie ein Fanfarenstoß erfolgte, sprang in elegantem dunkelblauem Smoking mit einer Chrysantheme im Knopfloch der Quizmaster Hans Ullrich Garden ins Scheinwerferlicht und verbeugte sich mit glücklichem Lächeln nach allen Seiten.

      Der Tusch des Orchesters wurde vom Begrüßungsapplaus übertönt.

      Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Beifall so weit gelegt hatte, daß Hans Ullrich Garden sprechen konnte. Er hob die Hände, wie um den Applaus zu dämpfen, dann rief er — die Lautsprecher sorgten dafür, daß seine tiefe sonore Stimme bis in den letzten Winkel des Raumes gut zu hören war: »Meine Damen und Herren, liebe Fernsehfreunde aus Nord und Süd, aus Ost und West, ich freue mich, ja ich freue mich aus ganzem Herzen, wieder bei Ihnen zu sein!«

      Wieder brach Beifall los, und Hans Ullrich Garden verstummte, er verbeugte sich leicht, mit bescheidener Miene, als wenn er sagen wollte: Aber wirklich — das ist zuviel der Ehre! Viel zuviel der Ehre! Womit habe ich das verdient? Aber um seine Mundwinkel spielte ein eitles Lächeln, das verriet, wie wohl ihm die Anerkennung tat.

      Endlich konnte er fortfahren. »Meine Damen und Herren, Sie sind wieder einmal — zum siebentenmal — in unserer Sendung ‚Lachen ist gesund’ bei uns im großen Sendesaal des Funkhauses erschienen, und ich hoffe von ganzem Herzen, daß wir auch heute wieder unser gestecktes Ziel erreichen! Was wollen wir denn? Nichts weiter als von