Mond der Kindheit. Tor Åge Bringsværd. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tor Åge Bringsværd
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711465950
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Für ihn war das so undenkbar wie ehrlos. Trotzdem verdammte er meine Haltung nicht. Sagte nur: »Ich sehe. Auch wenn es mir schwerfällt, mit deinen Augen zu sehen.« Wo die Häuser und Jurten endeten, blieben wir stehen – dort, wo wir immer umzukehren pflegten, bei der großen, sechs Meter langen Schildkröte aus Granit, die eine Säule auf dem Rücken trägt. Yelü Chucai liebte es, beide Hände auf den verzierten Panzer zu legen. Er konnte lange so stehen. Wortlos. In dieser Nacht wunderte er sich nur darüber, warum ich als Kind niemanden gehabt hatte, den ich liebte. Er sagte: »Kleine Hunde vergessen rasch. Sie lecken die Hand, die sie gerade noch geschlagen hat. Bis sie lernen zuzubeißen, vergeht einige Zeit.« Schließlich erzählte ich ihm von Regine, meiner ältesten Schwester, die starb, als ich sieben war. Regine war zwölf. Sie war groß und schlank und glich einem Jungen. Sie arbeitete bei einem Bäcker. Jede Nacht schlief sie in seinem Keller. Um Ratten und Mäuse vom Mehl fernzuhalten. Heute ist auch ihr Gesicht für mich verwischt. Am besten erinnere ich mich an ihre Schürzentaschen. In denen immer Kuchenkrümel waren. Ich glaube nicht, daß sie sich mehr um mich kümmerte als die andern. Aber zu Hause war es eng – und Regine freute sich über Gesellschaft. Sooft ich konnte, schlich ich mich nachts fort und hinunter zu ihr in den Keller. Sie brachte mir das Zahlenschreiben bei. Sie brachte mir bei, wie man zusammenzählt und abzieht. Ich kannte niemanden, der Lesen und Schreiben beherrschte ... Eines Nachts kam der Bäcker hinunter in den Keller. Ich versteckte mich. Er war betrunken und entdeckte mich nicht. Er suchte Regine. Ich wollte schreien, als er seinen schweren Körper auf sie wälzte. Doch Regine blieb ruhig liegen und bedeutete mir, den Mund zu halten. Er schlief ein, bevor er ihr etwas tun konnte. Danach wollte Regine nicht mehr, daß ich sie besuche. Und sie hörte auf, mit mir zu reden. Ich schaute Yelü Chucai an. Verzerrte den rot geschminkten Mund zu einem Grinsen. »Soll ich noch mehr erzählen? Ich hatte noch fünf Geschwister ...« Und ich nannte sie beim Namen: Carl, Oswald, Heinrich, Christine, Maria. Ich erzählte, daß ich zu schwach gewesen sei, um Bretter zu tragen, um beim Be- und Entladen der Schleppkähne zu helfen wie meine anderen Brüder. Daß ich nie so gut betteln konnte wie Christine und Maria, weil ich stotterte, und wenn überhaupt jemand die Tür öffnete, erschrak ich so, daß ich alles auf einmal hervorsprudelte und keiner verstand, was ich sagte. Ich fand es normal, daß mich die andern herumschubsten und mir meine Sachen klauten. Es schien so sein zu müssen, daß mich meine Brüder schlugen und traten. Denn ich hatte das Gefühl, zu nichts nütze zu sein. Nur ein hungriger Mund mehr zu sein. Und meine Brüder mußten sich oft mit den anderen Jungs wegen meiner Mutter prügeln. Sie wurden geneckt und mußten sich häßliche Wörter anhören. Und weil die andern immer mehr waren, mußten sie früh lernen, Prügel einzustecken. Wenn ich an sie denke, habe ich nicht ihre Gesichter vor mir, ich sehe nur Nasenbluten. Schürfwunden und geschwollene Lippen. Und da war es naheliegend, daß sie mich packten, wenn sie nach Hause kamen ... Mich, den Tagedieb, mich, den Einzelgänger ... mich, den Schlappschwanz. All das schilderte ich Yelü Chucai. Und ich erzählte auch, wie mich die Mutter einmal bat, dabei zu sein ... wie ich draußen warten mußte, im Schatten der Treppe ... bis sie mich rief ... und ich kam ins Zimmer zu ihnen, und Mutter sagte, ich solle mich ausziehen und mich zwischen sie legen ... weil der, bei dem sie war, es so wünschte. Und ich erinnere mich, daß sie weinte, und ich erinnere mich an meine eigenen, verwirrten Gefühle ... wie sich die Demütigung mischte mit der Freude, daß sie mich endlich brauchen konnte. Ich erinnere mich, daß ich versuchte, sie zu trösten. Daß ich alle beide trösten wollte. »Muß ich mehr erzählen?« Yelü Chucai schüttelte den Kopf. Strich mit der Hand über die große steinerne Schildkröte und starrte in die Dunkelheit. Einen Augenblick bereute ich es. Hatte ich zuviel gesagt? Und außerdem: Wie klein und unbedeutend mußte sich das für ihn anhören, verglichen mit dem Grauen, das er in einem langen Leben gesehen hatte ... oder besser: mit dem Grauen, das ich selbst gesehen – und erlebt hatte, später, als Erwachsener! Aber nach einer Weile schüttelte er wieder den Kopf – und ich kann immer noch den Schrecken in seiner Stimme hören, als er sagte: »Du hast keinen gekannt, der lesen und schreiben konnte?« Zuerst meinte ich, falsch gehört zu haben, aber er legte eine Hand auf meine Schulter und fuhr fort: »Du kommst weder aus der Wüste noch aus dem Gebirge. Du kommst aus einem Teil der Welt, wo man große Tempel und Paläste baut. Wo man wie die Esel schreit und sich wegen des Erreichten brüstet. Wo man überzeugt ist, vom einzig wahren Gott auserwählt zu sein. Und du behauptest, daß du keinen – überhaupt keinen – kanntest, der Lesen oder Schreiben beherrschte?« Für ihn war das das Schrecklichste von allem ...

      Wir standen lange in dieser Nacht, die Hände auf die Schildkröte gelegt, und redeten über die hoffnungslose Torheit des Menschen.

      Ich hatte eine weiße Maske aufgelegt, mit rotem Mund und schwarzen Labyrinthen auf beiden Wangen. Die Augen hatten blaue Schatten, und die Brauen zeigten schräg nach oben.

      Du sollst wissen, Yelü Chucai, alter Fuchs und schlaue Eule – der du am Fuße des Wan Shen ruhst, jenes Berges, nach dem du dich immer sehntest –, du sollst wissen, daß du recht hattest. Ich sage das jetzt, zu dir und zum Wüstenwind und mit einer Tuschfeder, die jedes Wort einfängt und es für die Zukunft festhält: Du hattest recht. Ich war der kleine Hund, von dem du sprachst. Ich unterwarf mich, wedelte mit dem Schwanz ... leckte Hände, die mich schlugen ... machte Männchen, um ein bißchen Liebe zu erhaschen, gab Pfötchen für einige kalte Brocken Zuneigung. Und die anderen: Auch sie müssen etwas gefühlt haben. Ich weiß, daß du recht hast ... wenn ich alle versperrten Gemächer in meinem Kopf öffne, wenn ich ein Licht entzünde und damit in all die alten, verstaubten Winkel leuchte ... dann erkenne ich, daß du recht hast. Denn die Liebe hat viele verkrüppelte Gestalten. Und etwas muß dagewesen sein ... etwas war da. Sonst wären all diese Räume heute leer, nachdem ich mich endlich wieder hineinwage. Aber Schatten, Namen, Teile von Bildern, halb verwischte Gesichter, die Erinnerung an einen Geruch, ein entferntes Echo von Stimmen (nicht so sehr die Wörter, mehr der Klang) ... das ist da – alles. Und ich kann es betrachten, drehen und wenden, sogar das meiste verzeihen ... was meine Geschwister betrifft. Kann sie verstehen. Wenigstens den Versuch machen. Aber die Mutter will ich möglichst vergessen. Die Tür zu ihrem Gemach in meinem Kopf wird verschlossen bleiben. Und den Schlüssel habe ich weggeworfen. Denn es war nicht nur das eine Mal ... und ich mußte immer tun, was sie sagten, immer tun, was sie wollten. Ich glaube zwar, daß auch sie keine Wahl hatte. Daß alles notwendig war und der einzige Ausweg. Ursprünglich könnte sie es so gesehen haben. Daß es so für uns alle das Beste war. Trotzdem möge sie in der Hölle braten. In alle Ewigkeit.

      Ich denke an die Schildkröte.

      Sie ist ebenso im Meer zu Hause wie an Land. Sie hat ein langes Leben. Mit ihren langsamen, unergründlichen Bewegungen verbinden wir Anfang und Ende aller Dinge, denken an die Schöpfung und an die Urkräfte, die nach wie vor wirksam sind. In großen Teilen Asiens gilt die Schildkröte als Symbol für das Unveränderliche, das, was sich nicht zerstören läßt. Oft können wir sie mit einem Elefanten auf dem Rücken abgebildet sehen, einem Elefanten, der seinerseits die ganze Welt trägt. Wir kennen sie auch gezeichnet als Kreis in einem Viereck. Der Kreis ist der Panzer – der Himmel –, das Viereck der Körper – die Erde. Doch selbst wenn sie auf diese Weise einen wandernden Hinweis auf den Kosmos darstellt, ist die Vorstellung Erde/Viereck stärker. Weil alles, was währt, alles, was verläßlich ist, mit dieser geometrischen Figur zu tun hat. Es gibt vier Jahreszeiten, vier Elemente und vier Himmelsrichtungen. Das ist konstant. Daran können wir uns halten.

      Yelü Chucai – ich denke an deine Schildkröte.

      Denn: Das aufzuschreiben ist genauso, als wollte man Sand mit beiden Armen auffangen. Du faltest die Hände und bildest einen Ring ... hebst ihn hoch ... doch nichts wird festgehalten – alles rinnt hindurch.

      Und ich habe keine Schildkröte, um mich anzulehnen.

      Als ich acht war.

      Als ich acht Jahre ... alt war.

      Ich lüge. Kein Wort ist wahr. Ich wurde in einem Schloß geboren. Mit drei Türmen und vierzehn bizarr geformten Spitzen. Meine Mutter war eine Prinzessin. Mein Vater war ein Ritter in glänzender Rüstung. Ich schlief in einem Seidenbett, und mein Kopfkissen war mit Daunen gefüllt. Ich hatte die besten Lehrer Europas. Die Musik, die ich schrieb, wird noch in tausend Jahren gespielt werden. Und meine Lieder werden niemals sterben.

      Das rief ich dem Taubstummen zu. Ich