Mond der Kindheit. Tor Åge Bringsværd. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tor Åge Bringsværd
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711465950
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Wölfe vom Leibe, und er war nach wie vor Ügedais höchster Berater.

      Ich gehörte Yelü Chucai.

      Das verschaffte mir mehr Freiheit als den meisten andern.

      Aber im Palast-in-dem-sich-alle-Wege-treffen hatte Töregene bereits begonnen, Ränke und Intrigen zu spinnen.

      Sie wollte Güjük auf dem Thron sehen.

      Und ihr war jedes Mittel recht.

      Auch 1204 war ein Rattenjahr. Das Jahr, in dem ich geboren wurde ... Ich habe mir abgewöhnt, auf Vorzeichen zu achten. Ich verschließe die Ohren vor den Sternen. Ich lese nicht mehr in den Rissen warmer Tierknochen. Denn ich habe in drei Welten gelebt. Unter drei verschiedenen Zeitrechnungen. Und ich weiß, daß fast alles nur die Sehnsucht ist, die große Verwirrung in unserem Herzen zu lindern.

      Meine Eltern brachten mir bei, die Jahre von Christi Geburt an zu zählen.

      Später wurde ich gezwungen, von der Flucht des Propheten von Mekka nach Medina auszugehen.

      Die letzten Jahre habe ich nach einem Kalender gelebt, in dem zwölf Tiernamen aufeinander folgen wie Speichen in einem Rad.

      Ich weiß, daß fast alles Wind ist.

      Trotzdem habe ich seltsamerweise oft das Gefühl, im Schatten einer Ratte zu wandern ...

      Der Halbmondsee.

      Mein Rücken ist schuld daran, daß ich hier geblieben bin. Er trägt mich nicht mehr. Jedesmal, wenn ich erwache, habe ich Angst, daß der Tag gekommen ist, an dem ich nicht mehr aufstehen kann.

      Die Menschen hier sind hilfsbereit. Niemand stellt unangenehme Fragen. Man ist an die verschiedenartigsten Pilger gewöhnt. Und ich kann für mich bezahlen.

      Vier Jahre lebte ich in Karakorum. Als Yelü Chucai starb – Friede sei mit ihm –, folgte ich der Karawane, die seinen Leichnam zurück nach Cathay bringen sollte. Es war sein Wunsch, am Fuße des Berges Wan Shan begraben zu werden. Sogar seine Feinde achteten seinen Letzten Willen. Der Wunsch wurde erfüllt.

      Ich hätte ihn gerne bis dorthin begleitet. Unter den Menschen gibt es keinen, den ich mehr bewundert habe als Yelü Chucai. Doch als sich eine Gelegenheit zur Flucht bot, ergriff ich sie. Was heißt fliehen ... die ganze Welt ist bald ein mongolischer Käfig, und es ist zwecklos, an den Gitterstäben zu nagen. Mir bleibt nur, zwischen Wegmarken aus Totenschädeln herumzuirren ... in der Hoffnung, einen dunklen Winkel zu finden.

      Ich erinnere mich an den letzten Abhang. Die Füße, die keinen Halt im losen Sand fanden. Ich krabbelte mehr, als ich ging. Bis ich endlich oben war ... und im Tal unter mir den kleinen, saphirblauen Halbmond erblickte. Ich habe Seen gesehen, die genauso schön waren. Aber an dem Tag ... nach mehreren Wochen in der Wüste ... auf der anderen Seite des Sees erkannte ich den kleinen Tempel, umgeben von silbrig schimmernden Bäumen ... und auf dem Wasser schwamm eine Schar Vögel mit schwarzen Hauben ... da fühlte ich, daß es richtig war, was mir die Leute in Dunhuang erzählt hatten: Hier ... genau hier ... sei die Hintertür zum Paradies. Und Furcht ergriff mich, alles könnte verschwinden ... alles wäre nur ein Spiel und ein Trugbild ... deshalb stürzte ich los, ließ mich hinunterrutschen, den ganzen Berg.

      Im selben Moment begann der Sand zu singen.

      Ein lauter, durchdringender Ton. Tief unter mir. Als hätte ich eine Harfe im Innern der Erde geweckt und die Saiten zum Schwingen gebracht. Und gleichzeitig fing die Sanddüne an zu beben.

      Ich erschrak zu Tode.

      Ich habe fast allem abgeschworen, fremden Lehren ebenso wie meinem Kinderglauben. Aber was ich sehen und hören kann, das, was ich mit eigenen Händen greifen kann ...

      Denn auch ich glaube, daß es geheimnisvolle Kräfte gibt.

      Der Priester und seine beiden Helfer kamen mir entgegen. Alle drei lächelten und zeigten die offenen Handflächen.

      Sie betrachteten meine Ankunft als gutes Vorzeichen.

      »Du hast genau die richtige Stelle ausgesucht«, erklärten sie mir. »Wärest du etwas weiter östlich gekommen, der Ton wäre viel schwächer gewesen. Und wärest du den Hügel dort drüben heruntergekommen, hätte man überhaupt nichts gehört. Nur einige wenige Sanddünen haben eine Stimme. Die meisten sind stumm.«

      Sie nannten die Erscheinung lui-ing – rollender Donner.

      Ich sagte, ich hätte nicht gewußt, daß der Sand donnern könne. Aber sie erwiderten, daß ich den Ton hier oft hören würde.

      Und sie hatten recht.

      Jedesmal, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung bläst, ertönt in den Dünen ein Geräusch. Manchmal klingt es wie Glocken. Manchmal ähnelt es dem Schrei eines männlichen Kamels.

      Später erfuhr ich, daß der Priester noch eine andere Erklärung dafür hat. Eine, die mich mehr befriedigt. Er glaubt, es seien die Götter, die da polterten ... dieselben Götter, für die in seinem kleinen Tempel Altäre stehen und denen er gehorsam Tag für Tag dient.

      Ich selbst denke mehr und mehr an Agartha. Das unterirdische Reich. Die Zufluchtsstätte. Wo die leben, die zweimal geboren werden.

      Der Traum von Agartha ... die Hoffnung, den geheimen Eingang zu finden ... ein verständlicher Traum für uns, die wir in einem Käfig leben.

      Aber es brauchte Zeit, bis ich mich an lui-ing gewöhnte. In einer der ersten Nächte wurde ich von einem Geräusch geweckt, das wie Trommelwirbel klang.

      Ich sprang auf.

      Der Priester hörte mich und rief: »Keine Angst, mein Bruder. Das sind nur die Trommeln unserer Sandhügel. Beruhige dein Herz.«

      Was bedeutet ein solcher wie ich für die Mächtigen in Karakorum? Warum sollten die Mongolen mir Soldaten nachschicken? Wen kümmert schon ein fremder Gaukler, der nicht mehr auf dem Marktplatz tanzt?

      Ich bitte um Zeit, damit ich diesen Tonkrug mit meiner Stimme füllen kann.

      Ich bitte um Zeit, damit ich ausreden kann.

      Und ich bitte darum, daß einmal ein Mensch dastehen und zuhören möge. Einer, der meine Sprache versteht.

      Fremder, der du mein Grab geöffnet hast ... trage ich noch das braune Gewand? Habe ich noch ein Gesicht? Oder bin ich nur ein Häufchen vermoderter Gebeine, nur ein grinsender Totenschädel?

      Ich weiß weder Tag noch Stunde. Ich weiß nicht das Jahr. Vielleicht bin ich nur ein entferntes Echo aus längst vergangener Zeit.

      Aber du hörst, daß ich dir zuflüstere?

      Ich bin Wolfgang.

      Eines der Kinder von Hameln.

      II

      Was wirklich geschah, geriet in Vergessenheit.

      Denn als die Trauer zu einer Scham wurde, die mitzuteilen keiner mehr für nötig fand, dachten sich die Menschen eine andere Geschichte aus.

      Wie lange dauert es, um aus einem Mönch einen Rattenfänger zu machen? Wie viele Jahre sind erforderlich, damit aus einer hohen, kreischenden Stimme Flötentöne werden?

      Ich habe gehört, wie man mein eigenes Schicksal erzählte. Als eine Lüge. Schon zur Sage verzerrt.

      Aber ich tadle niemanden.

      Auch ich lasse meine Zunge gerne Abkürzungen nehmen. Übertreiben. Bilder und Gleichnisse benutzen. Wie hätte ich sonst Schauspieler werden können? Und wenn sich die Gedanken nicht jedesmal, wenn ich mich näherte, im Dornengestrüpp verheddert hätten ... wer weiß ... vielleicht wäre auch ich in Versuchung geführt worden ... ein Maskenspiel aufzuführen ... aus der Geschichte der Stadt, die so furchtbar von Ratten heimgesucht war, eine Posse zu machen ... mit lauten Schreien und grotesken Gebärden? Ich sehe die Möglichkeiten. Hätte Mika noch gelebt, wir hätten sie zusammen machen können. Für uns zwei wäre das ein leichtes gewesen. Wir hätten Menschen spielen können, verdreckte und abgerissene, reiche und satte