Gemeinsam halten die drei alles in Ordnung, haben einige Reihen Kohl angepflanzt, verrichten den täglichen Tempeldienst, läuten zu festen Zeiten die Glocken, verbrennen Weihrauch und halten verschiedene Zeremonien ab. Sie begrüßen die Pilger und kümmern sich um jeden einzelnen.
Gastfreundschaft ist ein ungeschriebenes Gesetz. Ich begreife nicht, wie das auf Dauer gutgehen kann. Im Moment bin ich der einzige Gast. Aber vorige Woche waren noch vier weitere Pilger hier. Zwar bringen alle Gäste Nahrungsmittel für den gemeinsamen Vorrat mit, aber trotzdem ...
Ich bin zur Südseite zurückgekehrt. Hier stehen die drei kleinen Gebäude. Der Tempel, das Haus, in dem wir essen und uns versammeln, das Haus, in dem wir schlafen. Das Ganze ist eng zusammen auf Terrassen gebaut, mit einer Treppe, die hinunter zum Wasser führt. Ich habe die Sandalen ausgezogen. Ich sitze dort, wo der See an die unteren Stufen leckt.
Die Luft ist schwer von dem Geruch der kleinen Jujube-Bäume. Versteckt zwischen den Silberblättern hängen goldene Blütentrauben.
Es ist Frühsommer.
Nur das eine: Ich bin nicht aus Hameln. Ich komme aus Godesberg. Aber alle Schauspieler lügen. Wenn das der Rolle nützt.
III
Ich kann sie sehen. Undeutlich. Wie durch einen Schleier. Ich weiß, daß sie meine Mutter und mein Vater sind. Aber ich empfinde nichts für sie. Nicht jetzt. Und ich glaube ... damals auch nicht. Wir waren zu viele Geschwister. Die meisten von uns unerwünscht. Auch hier sind die Gesichter verwischt für mich. Oder aufgelöst in Splitter. Und willkürlich zusammengesetzt. Weshalb ich nie sicher sein kann, ob Augen und Haare vom selben Gesicht stammen. Vater starb, als ich fünf war. Und die Mutter hatte andere, um die sie sich mehr kümmerte. Meinte ich damals. Heute vermute ich, sie hat es wegen des Geldes getan. Das wir weiß Gott nötig hatten.
Mehr gibt es nicht zu sagen.
Mehr brauchst du nicht zu erfahren.
Ich habe dich aufgefordert, zuzuhören. Ich brauche keinen Beichtvater. Nie. Nie mehr.
Wir wußten, daß das Böse in der Welt war. Wir wußten, daß es nur schlimmer werden würde. Denn so stand es geschrieben. Das Böse müsse herrschen. Und erst dann ... wenn alles niedergebrannt war ... würde das Tausendjährige Reich kommen.
Aber konnte es schlimmer werden, als es bereits war?
Ich wurde in einem Europa geboren, in dem alle darauf warteten, daß der Himmel aufriß und die Engel des Herrn sich in den Wolken zeigten.
Ich kannte natürlich nicht die großen Zusammenhänge. Die erfuhr ich später. Ich wußte damals nicht, daß Frankreich gerade die Normandie erobert hatte und sich anschickte, nach England zu ziehen, wo Johann Ohneland gegen die Bischöfe und Barone kämpfte und die Kirchenglocken tausend Tage lang stumm geblieben waren. Ich wußte nicht, daß sich christliche Heere in Spanien sammelten, um die Almohaden zurückzuschlagen. Ich hatte keine Ahnung vom Kampf um den Thron im Heiligen Römischen Reich – das Gezänk zwischen Otto IV. und Friedrich II. Ich hatte nie den Namen Albigenser gehört. Ich wußte nur, daß der Papst – unser Heiliger Vater – Tag für Tag Ketzer und Juden verdammte. Und daß er Nacht für Nacht auf den Knien lag und verzweifelt darum betete, daß Jerusalem befreit werden möge.
Ich war ein Kind.
Ich wußte nur, daß wir in einem Jammertal lebten, heimgesucht von Hunger, Krieg und Pest.
Ich wußte, daß überall die Zeichen waren. Daß die Kometen wie Drachen am Himmel flogen. Daß Tote aus den Gräbern auferstanden. Daß Menschen mit Schweineköpfen geboren wurden. Und daß es in Hamburg Frösche regnete.
Man schrieb das Jahr 1212.
Ich wußte, daß wir in einer Endzeit lebten.
Aber ich hatte eine glückliche Kindheit. Das muß man mir glauben. Ich habe Kinder gesehen – woanders –, die zwischen verwesenden Leichen Verstecken spielten. Ich habe sie gesehen – halb verhungert –, wie sie Murmeln spielten vor Mauern, die einmal ein Heim umgeben hatten und nun nur noch rauchende Trümmer waren. Ich habe bei einem alten Märchen oder beim Grimassenschneiden apathische Gesichter wie einen Sternenhimmel aufleuchten sehen. Ich bin oft vor Kindern aufgetreten. Es braucht nicht viel, sie zu fangen. Ich habe Berufskollegen sagen hören, Kinder seien das anspruchsvollste Publikum. Meine Erfahrung ist gegenteilig. Sie sind leicht zu verführen. Eine spannende Verfolgung, ein paar einfache Fakten – und sie sind gebannt wie eine Motte im Licht. Es soll schwierig sein, Kinder zu betrügen? Ich hatte eine glückliche Kindheit. Zweifellos. Ich hatte zweifellos eine glückliche Kindheit. Denn Kinder sind sehr gewitzt, wenn es darum geht, einen Lichtblick zu entdecken. Im Verhältnis zur Körpergröße haben sie mehr Blut als Erwachsene. Es ist heiß und strömt schnell, besteht hauptsächlich aus Feuer und Wasser. Deshalb sind Kinder lebendiger und optimistischer als wir andern. Mitten im Elend.
Ich sprach einmal mit Yelü Chucai darüber. Ich stand ihm nicht besonders nahe. Und trotzdem ... das wird mir jetzt klar ... ich glaube, wir konnten über fast alles miteinander reden. Nie tagsüber. Da war ich nur einer von vielen. Aber wenn er nicht schlafen konnte, kam es vor, daß er einen Boten nach mir schickte. Er wollte immer, daß ich mein Gesicht geschminkt hatte oder eine Maske trug. Er sagte, er könne dann besser zuhören ... Während dieser nächtlichen Gespräche gingen wir gewöhnlich ein Stück, jedesmal den gleichen Weg. Hinaus durch die östlichen Stadttore, die auf sein geliebtes Cathay wiesen – die Heimat, die er verließ, um sich Dschingis Khan und der Goldenen Horde anzuschließen. Ich erinnere mich an seine Stimme. Leise und klar. Und jeder Satz genauso sauber gedreht wie der Krug eines Töpfers. Wir gingen allein unter den Sternen. Während die Häuser um uns langsam zu Erdhütten wurden und die großen Jurten zu kleinen, schmutzigen Zelten schrumpften. Ich glaube, er fühlte sich frei genug, zu sagen, was er wollte. Und ich weiß, daß er von mir dasselbe glaubte. Aber ich habe vielen Herren gedient. Ich weiß, daß bei Tageslicht vieles anders aussieht. Und ich habe mir nicht nur angewöhnt, meine Zunge zu hüten, ich achte auch ängstlich darauf, was ich meinen Ohren zu hören erlauben kann. Denn was ein Herr seinem Diener vertraulich oder im Rausch sagt, kann den Diener am nächsten Tag den Kopf kosten. Ich weiß, daß Yelü Chucai über solche Dinge erhaben war. Ich weiß, daß er meine Vorsicht nicht verdiente. Doch wer einmal eine Maus gewesen ist, sieht auch an der ausgestreckten Hand Katzenklauen. Meine Aufgabe war, ihn zu zerstreuen. Seine Gedanken abzulenken von den unangenehmen Pflichten. Ihm Bilder zu geben, die ihn zum Staunen brachten. So blieb ich in der Rolle. Versuchte, zu steuern, so gut es ging. Übertrieb nie. Aber obwohl ich es nicht wagte, völlig ich selbst zu sein ... der Ernsthaftigkeit unserer Gespräche tat das keinen Abbruch. Denn auch innerhalb einer solchen Rolle besteht eine gewisse Freiheit. Und ich weiß ... wir hatten beide Freude an unserem Zusammensein. Aber ich will mich nicht wichtiger machen, als ich war. Das geschah nicht sehr oft. Vielleicht ein- oder zweimal im Monat. Daß wir so wanderten ... nächtens und allein ... durch das Karakorum der Mongolen. Den Nabel dieses Monstrums von einem Staat, an dessen Geburt er selbst beteiligt war. Den er jetzt mit seinem Herzblut säugte. Ein neugeborenes Weltreich, so groß, daß ein Mensch zwei Jahre benötigte, um von einer Grenze zur anderen zu gehen. Ich musterte den kleinen Chinesen neben mir. Auch er war ein Fremder. Nur der Khagan war mächtiger als mein Herr Yelü Chucai. Und was dachte er über mich? Was las er in meinem weiß geschminkten Gesicht? Fühlte er sich wegen mir weniger fremd? Weil meine Wurzeln noch weiter von dieser verblasenen Steppe entfernt lagen als die seinen? War ich eine Art Freundschaftsersatz? Oder war ich nur ein exotisches Geschöpf vom Ende der Welt? Ich brachte ihn jedenfalls zum Lachen ... wenn ich ihm erzählte, was wir aßen, wie wir uns kleideten, wie wir saßen und wie wir schliefen. Er wollte alles wissen, jede Kleinigkeit in den Bildern meiner Erinnerung. Ich merkte, daß es ihn oft verwirrte. Doch auf diese Verwirrung legte er Wert. Er sagte: »Dadurch bekomme ich neue Augen.« Und etwas später: »Wie reden die Hunde in deiner Sprache? Wie die Hähne?« Und wir kläfften und bellten uns an. Wir standen auf einem Bein und krähten, zuerst auf deutsche, dann auf chinesische Weise. Es waren helle Nächte ... Ich erinnere mich aber auch an die Nacht, in der