Mond der Kindheit. Tor Åge Bringsværd. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tor Åge Bringsværd
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711465950
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ein einziger heulender Knoten aus Angst ist. Denn die Ratten sind überall. Kratzen an Fußböden und Wänden, huschen unter den Matratzen hervor, nagen in jedem Vorratskeller, treiben halbtot im Brunnenwasser. Und wir wären ohne Puppen und ohne kleine, graue Lederreste zurechtgekommen ... wir hätten uns mit raschen Blicken, Pfeiflauten und erschreckten Zeigefingern begnügt ... trotzdem hätten alle sie gesehen, deutlicher, als wären sie wirklich da, größer, gefährlicher und ekliger. Denn so hat der Herr unser inneres Auge geschaffen, pflegte Mika zu sagen. Ohne dieses Auge kann man kein Theater machen, und erst wenn es aussetzt, sind wir wirklich blind ... Unsere Ratten sollten tanzen, pfeifen und die Zähne fletschen – und der Platz, wo wir standen, sollte sich langsam in den Marktplatz von Hameln verwandeln ... in jenes Reich der Deutschen, das mir heute ebenso fern und unerreichbar erscheint wie der Mond. Ich weiß, daß die Bilder, die ich mit mir herumtrage, nie etwas anderes als Scherben waren. Trotzdem werde ich mich niemals zurücksehnen. Und im Theaterspiel könnte ich dort sein, die rote Maske aufsetzen und Bürgermeister sein, schlau und hinterlistig. Und Mika könnte die Menge der Stadtbewohner sein, die schrien, weinten, fluchten und an die Rathaustür hämmerten. Denn war ich nicht der Verantwortliche? War ich nicht der Bürgermeister? War es nicht meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Bedrohung des Schwarzen Todes beseitigt wurde? Aber nichts half. Bis eines Tages ... und ich sehe Mika im schwarzen Umhang mit dem roten Futter, den hohen Stiefeln und der Feder am Hut ... bis eines Tages der Rattenfänger in die Stadt kommt. Er verspricht, uns von der Plage zu befreien. Wir handeln einen Preis aus. Einen zu hohen Preis. Aber wenn die Ratten nicht verschwinden, wer weiß, ob ich wiedergewählt werde, und außerdem: Wer sagt denn, daß ich bezahlen muß? Sind die Ratten weg, dann sind sie weg, und alles, was danach passiert, ist eine andere Geschichte. Ich reibe mir die Hände. Ich lüpfe die Maske und schneide vertrauliche Grimassen zum Publikum. Ich berufe den Stadtrat ein – eine Puppe in jeder Hand – und ziehe seine Mitglieder ins Vertrauen. Sie fallen mir um den Hals und jubeln. Dann lassen wir die Bühne dunkel werden, heben einen Mond und zwei Sterne hoch, zeigen mit Handbewegungen, daß die Stadt schläft – und daß manche auch andere Dinge treiben (ein grober Spaß, der nie oft genug wiederholt werden kann – und die, die gerade erst gekommen sind oder zu besoffen, um der Handlung zu folgen, sollen auch ihren Spaß haben). Psst! Still! Hören wir da nicht eine Flöte? Was für eine merkwürdige Melodie? Und der Rattenfänger ... sieht er jetzt nicht anders aus? Im Schein des flachen Papiermondes, den wir vor uns befestigt haben, im Licht der Sterne, die zu halten ich einen Zuschauer gebeten habe. Der Rattenfänger geht durch die Gassen von Hameln, wandert langsam von Haus zu Haus ... das Gesicht ist eine weiße Maske und die Flöte, auf der er spielt, eine Knochenpfeife, glatt und gelblich. Der Rattenfänger spielt ... und aus Löchern und Spalten quellen sie heraus, die fetten Biester, wimmeln über das Kopfsteinpflaster, folgen ihm zahm und willenlos wie Schlafwandler. Und der Rattenfänger spielt ... spielt sie hinaus aus der Stadt, über die Felder, durch einen Wald, weit weg und hin zu einem Fluß ... spielt, bis jede einzelne von ihnen tot und ertrunken ist. Wenn ich den Mond umdrehe und zeige, daß die Sonne lächelnd aufgegangen ist ... wenn die Stadt erwacht ... sind alle froh und glücklich. Wir tanzen, rufen, schlagen die Trommel, versuchen, das Publikum mitzureißen. Und der Bürgermeister wird als Retter der Stadt gefeiert. Mitten unter dem Fest kehrt der Rattenfänger zurück. Er will wie abgemacht seinen Lohn haben. Aber wir weigern uns ... lachen ihn aus ... alle Bürger von Hameln ... wir torkeln herum ... wir legen ihm nahe, zu verschwinden, was er eigentlich wolle ... die Ratten haben uns verlassen, wir brauchen ihn nicht mehr ... wir kehren ihm den Rücken zu, wir treten nach ihm, wir jagen ihn fort. Und das Fest geht weiter. Bis jeder genug hat und mehr, als er verträgt, bis die Stadt sinnlos betrunken ihren Rausch ausschläft. Und jetzt ... jetzt kehrt der Rattenfänger zurück ... er hat gewartet ... er hat uns fürchterliche Rache geschworen ... jetzt setzt er die Knochenpfeife an die Lippen ... noch einmal wandert er durch die Gassen von Hameln ... ohne Hut, aber mit Haaren wie ein Vogelnest ... mit umgedrehtem Mantel ... mit Augen, die wie Kohlen glühen ... und spielt, spielt auf seiner verzauberten Flöte. Und diesmal sind es nicht die Ratten, die ihm folgen ... Die Erwachsenen schlafen, schnarchen, rülpsen ... aber die Kinder erwachen ... verwundert, voller Freude ... jedes Kind von Hameln wird von der Flöte geweckt ... und alle, die groß genug sind, gehen zu können, verlassen ihre warmen Betten und tappen hinaus auf die Gasse ... schauen sich an, aber sagen kein Wort ... lachen, aber ohne einen Laut ... scharen sich um den Rattenfänger, huschen durch die Gassen, steigen über schlafende Eltern und Großeltern ... formieren sich in Reih und Glied wie gehorsame Soldaten ... marschieren aus der Stadt ... weiter und immer weiter ... folgen der Flöte und dem, der spielt.

      All dies hätten wir vorführen können, Mika und ich. Wenn das Dornengestrüpp nicht gewesen wäre ...

      Wer weiß. Vielleicht wird die Sage weiterleben. Wird neue Schößlinge und Blüten treiben. Ich glaube aber: Die Kinder werden weiterhin Kinder bleiben. Egal, wie die Geschichte erzählt wird. Gleichgültig, wie viele Schalen sich bilden.

      Und sie werden für immer verloren sein.

      Nicht nur in Hameln, auch in Hunderten anderer deutscher und französischer Städte.

      Yelü Chucai sagte einmal zu mir: »Wenn deine Tuschfeder an einer Seite abgenutzter ist als an der andern, ist das ein Hinweis, daß sich dein Herz nicht im Gleichgewicht befindet.«

      Aber wie kann ich ruhig denken, wie soll ich im Herzen gefühllos bleiben?

      Ich war eines von ihnen.

      Außerdem: Seit ich mich erinnere, habe ich Schwierigkeiten mit den vier Körpersäften gehabt. Die Arzte meinen, das hänge mit Leber und Milz zusammen. Oft produziere die Leber zuviel gelbe Galle, erklären sie mir. Der Körper wird heiß und trocken, im Gemüt entsteht ein Übergewicht von Feuer und Erde – und ich werde hitzig und hochfahrend. Ein paar Tage später kann das umgekehrt sein. Da macht die Milz plötzlich nicht mehr mit, und ich habe zu viel von der schwarzen Galle. Das Gemüt wird von Luft und Erde erfüllt, und ich verfalle beim geringsten Anlaß in Trauer und Melancholie. Ich kämpfe gegen diese Stimmungsschwankungen an, so gut ich kann. Solange es möglich ist. Aber jeder hat sein Leiden. Das ist meines.

      Ich bin um den See herumgegangen. Langsam und allein. Ich habe den Sand in die Hände genommen, habe ihn durch die Finger rieseln lassen. Anscheinend grau und leblos, doch bei näherem Hinsehen ... durchsetzt mit winzigen, vielfarbigen Quarzteilchen. Blau, grün, rot, purpur, weiß. Und ich überlegte: Möglicherweise ist es gar nicht so, daß wir Menschen die Symbole schaffen ... möglicherweise finden die Symbole uns.

      Ich war acht Jahre, als ich dem Ruf folgte. Als ich mich von Rattenfängern und Wirrköpfen locken ließ.

      Wir nannten es Kinderkreuzzug.

      Beim Weitergehen dachte ich an Mika. Er hat mir beigebracht, Masken anzufertigen, und er hat mir gezeigt, wie ich vier Bälle auf einmal in der Luft halten kann.

      Vorführungen und Kostüme kannte ich fast nur von den großen kirchlichen Feiern. Aber Mika stammte aus Nikäa. In ihm lebte das Erbe der griechischen Komödien und die Erinnerung an die großen Pantomimen im Hippodrom Konstantinopels. In ihm sprudelte eine von Zauberern, Tierbändigern, Taschenspielern und fahrenden Gauklern geprägte Tradition.

      Ich dachte an Mika – und ich fand Trost darin, einige Handvoll Sand gegen den Wind zu werfen.

      Ich weiß, daß mich der Priester und seine zwei Helfer beobachten. Ich weiß, daß sie verwundert sind.

      Ich bin jetzt beinahe drei Wochen hier. Noch habe ich mich ihnen nicht geöffnet.

      Ich will nicht einmal wissen, wie sie heißen.

      Mir liegt nichts daran, neue Namen zu lernen.

      Ich will meinen Frieden.

      Der Priester ist alt. Hat einen Kopf wie ein verhutzelter Apfel. Arme und Beine wirken unglaublich dünn. Trotzdem vermittelt seine Gestalt den Eindruck von Stärke und Zähigkeit. Er ist wie ein genügsamer, vom Wind zerzauster Wüstenbusch.

      Der ältere der beiden Gehilfen ist ein Junge von fünfzehn oder sechzehn Jahren. Vorher war er Schafhirte. Das muß sehr schwierig für ihn gewesen sein. Er hat einen Klumpfuß und hinkt mit jedem Muskel seines Körpers. Er legt eine enorme Hingabe für den Priester an den