»Ist das dein Schreibtisch, wenn du nicht gerade Sonntagsdienst hast?«
Der Junge lächelte und nickte.
»Du hast es verdient, Jungchen. Du bist genau der Richtige für den Job. Das Haar, das blöde Grinsen. Du wirst es weit bringen.«
»Nur weil man dich hier rausgeschmissen hat, weil du eine wandelnde Ein-Mann-Armee bist … ach, leck mich am Arsch, Bosch, du bist doch erledigt.«
Bosch zog einen Stuhl auf Rollen von einem Schreibtisch heran und schob ihn vor den IBM-PC an der Rückwand. Er schaltete ein, und ein paar Sekunden später erschienen die bernsteinfarbenen Buchstaben auf dem Bildschirm: »HITMAN« – Homicide Information Tracking Management Automated Network.
Einen Augenblick lang lächelte Bosch über das unaufhörliche Bedürfnis des Dezernats nach Akronymen. Es kam ihm vor, als hätte man jede Einheit, jede Einsatzgruppe und Computerakte auf einen Namen getauft, dessen Akronym etwas Elitäres vermitteln sollte. Für die Öffentlichkeit waren Akronyme gleichbedeutend mit Taten, mit enormem Personalaufwand zur Bekämpfung lebensbedrohlicher Probleme. Da gab es »HITMAN«, »COBRA«, »CRASH«, »BADCATS«, »DARE«. Hundert weitere. Irgendwo im Parker Center sitzt jemand, der den ganzen Tag nichts anderes macht, als sich eingängige Akronyme auszudenken, dachte er. Computer hatten Akronyme, sogar Ideen hatten Akronyme. Wenn deine Spezialeinheit kein Akronym hatte, dann warst du in diesem Dezernat einen Dreck wert.
Als er im HITMAN-Programm war, erschien ein Fragenfeld zu dem gesuchten Fall, und er füllte die Leerstellen aus. Dann tippte er drei Stichworte ein: »Mulholland-Damm«, »Überdosis« und »vorgetäuschte Überdosis«. Dann drückte er die entsprechende Taste, und eine halbe Minute später erklärte ihm der Computer, dass ein Suchlauf durch achttausend Mordfälle, die auf der Festplatte gespeichert waren und etwa zehn Jahre umfassten, nur sechs Treffer gebracht hatte. Bosch rief einen nach dem anderen auf. Die ersten drei waren ungeklärte Morde an jungen Frauen, die man Anfang der Achtziger tot neben dem Damm gefunden hatte. Sie alle waren erwürgt worden. Bosch warf einen kurzen Blick auf die Information und ging zum nächsten weiter. Der vierte Fall betraf eine Leiche, die vor fünf Jahren im Wasserbecken getrieben hatte. Die Todesursache war nicht Ertrinken gewesen, doch Näheres war nicht bekannt. Bei den letzten beiden handelte es sich um Drogentote. Einer war bei einem Picknick im Park oberhalb des Reservoirs umgekommen. Die Sache sah für Bosch ziemlich eindeutig aus, und er ging weiter. Der letzte Fall betraf eine Leiche, die man vor vierzehn Monaten in der Röhre gefunden hatte. Als Todesursache wurde Herzstillstand aufgrund einer Überdosis braunen Heroinkonzentrats festgestellt.
»Der Verstorbene war dafür bekannt, dass er sich regelmäßig am Damm aufhielt und in der Röhre schlief«, stand auf dem Bildschirm. »Keine weiteren Vorfälle.«
Das war der Tote, von dem Crowley, der wachhabende Sergeant in Hollywood, am Telefon gesprochen hatte. Bosch drückte eine Taste und druckte die Informationen zu dem letzten Fall aus, wenn er auch nicht glaubte, dass der etwas mit seinem Fall zu tun hatte. Er ging aus dem Programm und schaltete den Computer ab, dann saß er noch einen Moment da und dachte nach. Ohne von seinem Stuhl aufzustehen, rollte er vor einen anderen PC. Er stellte ihn an und gab sein Passwort ein. Er nahm das Polaroid aus der Tasche, sah sich das Armband an und fütterte die Datei gestohlener Gegenstände mit der Beschreibung des Schmuckstücks. Das allein schon war eine Kunst. Er musste das Armband so beschreiben, wie er glaubte, dass andere Cops es tun würden, Cops, die möglicherweise Beschreibungen eines ganzen Inventars gestohlener Schmuckstücke aus einem Raub oder einem Diebstahl eingeben mussten. Er beschrieb das Armband einfach als »antikes Goldarmband mit geschnitztem Delfin aus Jade«. Er drückte die Suchtaste, und nach dreißig Sekunden sagte der Bildschirm »Nicht gefunden«. Er versuchte es noch einmal, tippte »Gold- und Jadearmband« ein und drückte die Suchtaste. Diesmal gab es 436 Treffer. Zu viele. Er musste die Herde ausdünnen. Er tippte »Goldarmband mit Jadefisch« und drückte auf »Suchen«. Sechs Treffer. Schon besser.
Der Computer sagte, ein Goldarmband mit einem geschnitzten Jadefisch tauche in vier Polizeiberichten und zwei Bulletins auf, die seit seiner Einführung 1983 in das Computersystem eingegeben worden waren. Bosch wusste, dass wegen der zahlreichen doppelten Ausführungen in sämtlichen Departments alle sechs Eintragungen ohne Weiteres vom selben Fall oder derselben Meldung über ein verloren gegangenes oder gestohlenes Armband stammen konnten. Er holte die Kurzfassungen der Polizeiberichte auf den Schirm und stellte fest, dass sein Verdacht zutraf. Die Berichte stammten allesamt vom selben Einbruch im September an der Ecke Sixth und Hill in Downtown L.A. Geschädigte war eine Frau namens Harriet Beecham, einundsiebzig, aus Silver Lake. Bosch versuchte sich zu erinnern, welches Gebäude oder Geschäft sich an dieser Ecke befand. Es gab keine Zusammenfassung des Verbrechens im Computer. Er würde ins Archiv gehen und sich einen Ausdruck geben lassen müssen. Es gab jedoch eine knappe Beschreibung des jadebesetzten Goldarmbandes und verschiedener weiterer Schmuckstücke, die man der Beecham entwendet hatte. Das Armband, das die Beecham als gestohlen gemeldet hatte, konnte möglicherweise das Stück sein, das Meadows versetzt hatte, oder vielleicht auch nicht … Die Beschreibung war zu vage. Mehrere weiterführende Aktenzeichen waren angegeben, die Bosch allesamt in sein Notizbuch schrieb. Dabei schien es ihm, als hätten Harriet Beechams Verluste eine ungewöhnliche Menge an Papierkram mit sich gebracht.
Als Nächstes rief er die Information zu den beiden Bulletins auf. Beide stammten vom FBI, und das erste war zwei Wochen nach dem Raub aufgesetzt worden. Drei Monate später hatte man es erneut veröffentlicht, nachdem der Schmuck der Beecham noch immer nicht aufgetaucht war. Bosch schrieb die Nummer des Bulletins auf und stellte den Computer ab. Er ging hinüber zur Ermittlungsgruppe »Geschäftseinbrüche«. Auf einem Stahlregal, das die gesamte Rückwand einnahm, reihten sich Dutzende schwarzer Ordner aneinander, in denen die Bulletins und Fahndungsmeldungen vergangener Jahre aufbewahrt wurden. Bosch nahm den Ordner mit der Aufschrift »September« und begann ihn durchzusehen. Bald merkte er, dass die Bulletins nicht chronologisch geordnet und keineswegs alle im September herausgegeben waren. Es gab überhaupt kein System. Möglicherweise würde er alle zehn Monate seit dem Raub durchsehen müssen, um das Bulletin zu finden, das er suchte. Er nahm einen Stapel Ordner aus dem Regal und setzte sich an den Tisch für Einbruchsdelikte. Wenige Augenblicke später spürte er, dass auf der anderen Seite des Tisches jemand war.
»Was willst du?«, sagte er ohne aufzusehen.
»Was ich will?«, sagte der Detective vom Dienst. »Ich will wissen, was zum Teufel Sie da machen, Bosch. Das hier ist nicht mehr Ihre Dienststelle. Sie können nicht einfach hier reinplatzen und so tun, als würden Sie den Laden schmeißen. Stellen Sie den Scheiß wieder zurück, und wenn Sie was suchen, kommen Sie morgen wieder und fragen nach, verdammt. Und erzählen Sie mir nicht wieder den Blödsinn mit der Autopsie. Sie sind schon eine halbe Stunde da.«
Bosch blickte zu ihm auf. Er schätzte ihn auf achtundzwanzig, vielleicht neunundzwanzig, noch jünger als Bosch gewesen war, als er beim Morddezernat angefangen hatte. Entweder waren die Ansprüche gesunken, oder das Morddezernat war nicht mehr, was es mal war. Bosch wusste, dass beides stimmte. Er widmete sich wieder dem Bulletin-Ordner.
»Ich rede mit dir, Arschloch!«, bellte der Detective.
Bosch streckte seinen Fuß unter dem Tisch aus und trat gegen den Stuhl, der ihm gegenüber stand. Der Stuhl schoss unter dem Tisch hervor, und seine Lehne traf den Detective zwischen die Beine. Er klappte zusammen, gab ein Uumpf von sich und tastete nach dem Stuhl, um sich abzustützen. Bosch wusste, dass sein Ruf für ihn arbeitete. Harry Bosch: Einzelgänger, Kampfmaschine, Killer. Komm schon, Junge, sagte er damit, tu was.
Aber der junge Detective starrte Bosch nur an, hielt Wut und Erniedrigung im Zaum. Er war ein Cop, der die Waffe ziehen, aber nicht abdrücken konnte. Und als Bosch dies wusste, wusste er auch, dass der Bengel kneifen würde.
Der junge Cop schüttelte den Kopf, wedelte mit den Armen, als wollte er sagen, jetzt ist es aber genug, und kehrte an seinen Tisch zurück.
»Mach