Bosch nickte, drehte sich wieder zum Tresen um und fing an, Meadows’ Kleidung auszubreiten. Hinter sich hörte er, wie Salazar mit der Schere den Brustkorb des Mannes öffnete.
Der Detective zog beide Taschen heraus und sah sich die Fusseln an. Er drehte die Strümpfe um und prüfte die Innennähte von Hose und Hemd. Nichts. Er nahm ein Skalpell aus der Müssen-geschärft-werden-Schale, durchschnitt die Nähte von Meadows’ Ledergürtel und trennte ihn auf. Wieder nichts. Hinter seinem Rücken hörte er, wie Salazar sagte: »Die Milz wiegt hundertneunzig Gramm. Die Kapsel ist intakt und etwas faltig, das Parenchym ist hellrot und wulstig.«
Bosch hatte das alles schon Hunderte von Malen gehört. Das meiste von dem, was der Pathologe in seinen Rekorder diktierte, sagte dem Detective nichts. Er war nur am Ergebnis interessiert. Was hatte die Person auf dem Stahltisch getötet? Wer? Und wie?
»Die Gallenblase ist dünnwandig«, sagte Salazar. »Sie enthält einige Kubikzentimeter grünlichblauer Gallenflüssigkeit ohne Steine.«
Bosch stopfte die Kleidungsstücke zurück in die Plastiktüte. Dann holte er Meadows’ lederne Arbeitsschuhe aus einer zweiten Plastiktüte. Rötlichorangefarbener Staub rieselte aus dem Inneren der Schuhe. Ein weiterer Hinweis darauf, dass jemand die Leiche in die Röhre gezerrt hatte. Die Absätze waren über den getrockneten Schlamm geschrammt und hatten den Staub in die Schuhe gelenkt.
Salazar sagte: »Die Blasenschleimhaut ist intakt, und darin enthalten sind nicht mehr als fünfzig Milliliter hellgelber Urin. Die äußeren Genitalien und Vagina sind nicht weiter bemerkenswert.«
Bosch drehte sich um. Salazar hielt seine Hand über das Mikrophon des Diktiergeräts. Er sagte: »Pathologenhumor. Wollte nur sehen, ob du zuhörst, Harry. Es könnte sein, dass du es irgendwann bezeugen musst. Um meine Aussage zu stützen.«
»Das möchte ich bezweifeln«, sagte Bosch. »Niemand langweilt die Geschworenen gern zu Tode.«
Salazar stellte die kleine Kreissäge an, mit der man Schädel öffnet. Sie klang wie ein Bohrer beim Zahnarzt. Bosch wandte sich wieder den Schuhen zu. Sie waren ordentlich gefettet und gepflegt. Die Gummisohlen waren nur wenig abgetragen. In einer der tiefen Rillen im Profil des rechten Schuhs steckte ein weißer Stein. Bosch löste ihn mit dem Skalpell heraus. Es war ein kleiner Brocken Zement. Der weiße Staub auf dem Teppich in Meadows’ Wandschrank fiel ihm ein. Er überlegte, ob der Staub oder dieser Brocken vielleicht von dem Beton aus dem Tresorraum der WestLand Bank stammte. Wenn aber die Schuhe so gut gepflegt waren, konnte der kleine Brocken dann die neun Monate seit dem Einbruch im Profil gesteckt haben? Das war unwahrscheinlich. Vielleicht stammte er von der Arbeit beim U-Bahn-Bau. Falls Meadows tatsächlich so einen Job gehabt hatte. Bosch warf den Zementbrocken in einen kleinen Plastikumschlag und steckte ihn in die Tasche zu den anderen, die er im Laufe des Tages gesammelt hatte.
Salazar sagte: »Bei der Untersuchung des Kopfes und des Schädelinhalts zeigt sich weder ein Trauma, noch eine pathologische Vorerkrankung oder eine angeborene Anomalie. Harry, ich werde mir jetzt den Finger ansehen.«
Bosch stellte die Schuhe wieder in die Plastiktüte und wandte sich zum Autopsietisch um, als Salazar ein Röntgenbild von Meadows’ linker Hand gegen einen Lichtkasten an der Wand hielt.
»Siehst du hier diese Splitter?«, fragte er, während er auf kleine, spitze, weiße Flecken im Negativ deutete. Drei davon lagen in der Nähe des gebrochenen Gelenks. »Wäre das hier ein alter Bruch, wären sie mit der Zeit in das Gelenk gewandert. Narben sind auf dem Röntgenbild keine zu erkennen, aber das werde ich mir gleich mal ansehen.«
Er trat an die Leiche und machte mit dem Skalpell einen T-förmigen Schnitt in die Haut an der Oberseite des Gelenks. Dann zog er die Haut zurück, bohrte mit dem Skalpell im rosigen Fleisch herum und sagte: »Nein … nein … nichts. Das war nachträglich, Harry. Meinst du, es könnte einer von meinen Leuten gewesen sein?«
»Ich weiß nicht«, sagte Bosch. »Sieht nicht so aus. Sakai hat gesagt, er und sein Helfer wären vorsichtig gewesen. Ich bin mir sicher, dass ich es nicht gewesen sein kann. Wie kommt es, dass die Haut nicht beschädigt wurde?«
»Das ist eine interessante Frage. Ich weiß es nicht. Irgendwie wurde der Finger gebrochen, ohne dass äußerlicher Schaden entstand. Darauf habe ich keine Antwort. Aber es dürfte nicht allzu schwierig gewesen sein. Einfach den Finger festhalten und nach unten reißen. Vorausgesetzt, man bringt es über sich. So etwa.«
Salazar ging um den Tisch. Er hob Meadows’ rechte Hand und riß den Finger nach hinten. Ihm fehlte die Hebelkraft, und er konnte das Gelenk nicht brechen.
»Schwieriger, als ich dachte«, sagte er. »Vielleicht hat jemand mit einem stumpfen Gegenstand auf den Finger geschlagen. Mit einem Ding, das die Haut nicht beschädigt.«
Als Sakai eine Viertelstunde später mit den Proben hereinkam, war die Autopsie beendet und Salazar nähte Meadows’ Brustkorb mit einer dicken, gewachsten Schnur zu. Dann nahm er einen von der Decke hängenden Schlauch, spritzte die Leiche ab und befeuchtete das Haar. Sakai band die Arme und Beine mit einem Seil zusammen, um zu verhindern, dass sie sich in den verschiedenen Stadien der Leichenstarre bewegten. Bosch sah, dass das Seil in die Tätowierung an Meadows’ Arm schnitt, direkt am Hals der Ratte.
Mit Daumen und Mittelfinger drückte Salazar Meadows’ Augen zu.
»Bringen Sie ihn in die Box«, sagte er zu Sakai. Dann zu Bosch: »Sehen wir uns mal die Proben an. Es kam mir seltsam vor, weil das Loch größer war als bei einer normalen Nadel, und die Stelle an der Brust ist ziemlich ungewöhnlich.
Der Einstich wurde zweifellos vor dem Tod vorgenommen, möglicherweise während des Todes … es gab nur eine leichte Blutung. Aber es hat sich kaum Schorf auf der Wunde gebildet. Das heißt also: kurz bevor oder während er gestorben ist. Möglicherweise die Todesursache, Harry.«
Salazar brachte die Proben zu einem Mikroskop, das auf dem Tresen im hinteren Teil des Raumes stand. Er suchte eine der Proben aus und legte sie auf die Sichtscheibe. Er beugte sich darüber, und nach einer halben Minute sagte er: »Interessant.«
Dann sah er sich kurz die anderen Proben an. Als er fertig war, legte er die erste Probe wieder auf die Sichtscheibe.
»Okay, ich habe dort, wo der Einstich war, aus der Brust ein quadratisches Stück von zweieinhalb Zentimetern entnommen. Ich bin mit dem Schnitt etwa vier Zentimeter in die Brust eingedrungen. Diese Probe ist ein vertikales Präparat der Probe und zeigt den Verlauf des Einstichs. Kannst du mir folgen?«
Bosch nickte.
»Gut. Das ist in etwa so, als würde man einen Apfel aufschneiden, um den Gang eines Wurmes freizulegen. Die Probe zeigt den Verlauf der Perforation, jeden direkten Schlag und jede Verletzung. Sieh es dir an.«
Bosch beugte sich über das Okular des Mikroskops. Die Probe zeigte eine gerade, etwa zweieinhalb Zentimeter tiefe Perforation durch die Haut und in den Muskel, die sich am Ende wie ein Nagel verjüngte. Der rosige Muskel färbte sich am unteren Ende der Penetration dunkelbraun.
»Was bedeutet das?«, fragte er.
»Es bedeutet«, sagte Salazar, »dass der Einstich durch die Haut ging, durch die Faszie – das ist die sehnenartige Muskelhaut – und dann direkt in den pektoralen Muskel. Ist dir die dunkler werdende Färbung des Muskels um die Penetration herum aufgefallen?«
»Ja, ist sie.«
»Harry, das kommt, weil der Muskel dort verbrannt ist.«
Bosch wandte sich vom Mikroskop ab und sah Salazar an.
Unter der Atemmaske des Pathologen schien sich ein schmales Lächeln abzuzeichnen.
»Verbrannt?«
»Ein Elektroschocker«, sagte der Pathologe. »Einer, der seinen Elektrodenpfeil tief ins Hautgewebe dringen lässt. Etwa drei bis vier Zentimeter. Wenn es in diesem Fall auch wahrscheinlicher sein dürfte, dass die Elektrode manuell tiefer in den Brustkorb gepresst wurde.«
Bosch überlegte einen Augenblick. Es wäre praktisch unmöglich, einen bestimmten