Der große Fluss im Meer. Hans Leip. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Leip
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711467176
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hat, die Welt zu beunruhigen.

      Man hat viele Erklärungen für diesen „Abschied vom Mittelalter“ versucht. Man hat das Versagen der Kirche dafür verantwortlich gemacht oder die Türken, die den Gewürz-, Weihrauch- und Seidenweg nach Asien sperrten.

      Wir, Tlaloca, wissen eine andere Ursache.

      Es ist jene Zeit, da die Fahrten der Skandinavier nach Grönland und nach Nordamerika aufhören. Was hat das mit dem Humanismus zu tun? O ja, es hat vielleicht. Das große Vielleicht steht hinter jeder Antwort seit jener Zeit. Um jene Zeit nämlich wurden die Grönlandfahrten unbequem und die Siedlungen dort ungastlich, die sich doch einer langen Blüte erfreut hatten. Irgend etwas war in der kosmischen Harmonie geändert worden. Die Erdachse hatte sich langsam, langsam um ein paar Meter verschoben, oder die Sonne hatte einen zufälligen winzigen Ruck getan, oder irgendwo in den Abgründen der See hatten weitwirkende Einbrüche stattgefunden.

      Jedenfalls ist um jene Jahrhundertwende die Packeisgrenze im Nordwesten vorgerückt. Die grönländischen Häfen sind von Eis blockiert, und der Weg mit den Strömungen gen Winland und Markland ist wegen Treibeis, Eisbergen und Nebel nicht mehr benutzbar. Und es schneit in Grönland, unaufhörlich. Die Siedler verkümmern. Sie und die alten Segelwege geraten in Vergessenheit. Sie wurden von der Midgardschlange verlassen.

      Denn der Golfstrom, der warmblütige Schlangenstrom, hatte eine kleine Wendung nach Osten vollzogen.

      Nun fließt er ein wenig näher heran an die zerfranste Tatze Europa. Und sieh, wie die unterm Cantus firmus Dahindämmernde sich zu regen beginnt! Sieh, wie die Winter milder werden und die Frühlinge und Herbste stürmischer und die Sommer feuchter, alles ein wenig nur, und sogar mit Rückschlägen – wenn in der Davisstraße die Gletscher das Kälberkriegen vergessen und der Golfstrom zurückschwingt, sie zu mahnen. Es sind nur ein, zwei Grade zuviel, verglichen mit dem, was der europäischen Lage natürlich wäre, aber hier und da sind es zwanzig Grade zuviel. Und der feuchte Warmhauch, der von der pulsenden Schlange aufdampft und den die Westwinde herübertragen bis an die Alpen und über die Alpen hin, er läßt Pfirsiche, Reben und Erdbeeren im Freien reifen, wo naturgemäß nichts als Kranichsbeeren wachsen sollten, soweit der Schnee überhaupt auftauen würde. Und er heizt die unbewußten Gemüter, die empfindsameren sowohl als die Holzköpfe, und indes die einen unruhig zwischen Himmel und Hölle fiebern, knallen die andern aufeinander und wissen nicht, warum, und suchen ihre Gründe in allerlei Vorwänden der Politik, des Ruhmes, der Ehre, des Himmels, der Macht und des Vorteils.

      Es beginnt die Zeit der Umwälzungen, der konfessionellen Auseinandersetzungen, der Kriege, der Massenmorde, der Entdeckungen, der Deportationen, der Auswanderungen, der Erfindungen. Das golfstromerregte Abendland wirft sich auf sich selbst und über die Welt. Es ist verurteilt, über seine Maße hinauszusprießen, Unerhörtes darzustellen, sich über die ganze Erde zu verbreiten und – übersteigert und übernommen – sich selber zu verzehren.

      Um 1400 wird der atlantische Mensch sichtbar. Er ist gezeugt vom Golfstrom. Immer schon war er vorhanden, dieser Golfstromtyp Europas, dieser unruhige, zuinnerst Fiebernde, dieser Getriebene. Aber lange blieb er auf die Mittelmeerländer beschränkt. Es würde eine dankbare Aufgabe sein, nachzuweisen, daß der Golfstrom einige hundert Jahre lang bis zum Beginn unserer Zeitrechnung eine weitreichendere Ader ins Mittelmeer geschickt habe. Soll doch Aristoteles gestorben sein in Verzweiflung über die vergebliche Erforschung der Meeresströmung, die in der Straße von Negroponte herrschte und wahrscheinlich die heutigen Strömungen weit übertraf.

      Sein Schüler Tyrtamos, von ihm Theophrastos genannt, erkannte um 310 v. Chr. an der Drift von Seetang und versiegelten Flaschen, daß das Mittelmeer sein Wasser hauptsächlich vom Atlantik beziehe.

      Tlaloca, sie werden mit Steinen nach uns werfen, wenn wir behaupten, zum Beispiel Platon und Aristoteles, Euklid, Archimedes und Herodot, Aischylos, Sophokles und Euripides verdankten ihre hohe geistige Nervosität und Fruchtbarkeit dem Golfstrom. Es wird uns aber nichts übrigbleiben als hinzuzufügen, daß Einmaligkeit nur aus Einmaligkeit entstehen kann, und wenn zehn Golfströme ihren hochzüchtenden Atem dazu herleihen.

      *

      Der Deutschamerikaner Manfred Curry, Arzt und Luftdruckforscher, hat in langen Untersuchungsreihen zwei Typengruppen des „homo sapiens“ weißer Hautfarbe herausgefunden. Sie lassen sich auch in andern Kontinenten mit Seeklima unterscheiden, aber nirgends so ausgeprägt und trennbar wie in Europa. Es sind – kühn behauptet – Strömungstypen. Sie leben neben- und durcheinander wie die warmen und kalten Strömungen des Nordatlantiks, wie diese in ständiger Bewegung, hier und da sich vermischend, die einen von der Wärme zur Kühle strebend, die andern rückschwingend von Nord gen Süd.

      Curry hat sie als Luftdrucktypen bezeichnet, als warmfrontempfindlich und kaltfrontempfindlich, als W- und K-Typ. Damit ist er weit in der Entlarvung der europäischen Besonderheit und ihrer kolonialen Ableger vorgedrungen, wenn er auch die Basis nicht nennt, das atlantische Strömungsnetz, das in Wechselbeziehung zu den Luftspannungen steht. Der Chef der Wetterköche Europas heißt Golfstrom. Seine Launen servierten im Januar 1954 den Lappländern Sommertemperatur, indes in Südschweden die Milch am Ofen gefror.

      Betrachtet man die Gesichter norwegischer Seefahrer, so findet man vorzugsweise W-Typen, untersetzt, mit hochgeringelten Mundwinkeln, flachliegenden Augen, von zykloider Gemütslage, warmfrontempfindlich, windfroh und kältestrebend. Es sind die Nachfahren des Winlandfahrers Leif, des Sohnes Erichs des Roten, unerschrockene Weitfahrer, ruhelose Seewanderer, die über Island und Grönland, nicht über Spanien Amerika erreicht haben, also auf den kühlen Rückdriften und Gegenströmen des Golfstroms. Es sind Golfstromüberwinder. Sie heuern heute auf Walfängern an. Norwegen hat die größte arktische und antarktische Walfangflotte. Und wo die eigenen Schiffe nicht reichen, sind sie auf fremden Walkochereien, zumal als Harpunierer, gesuchte Leute.

      Es gibt den andern Typ, den hageren K-Typ mit den tiefliegenden Augen und den schmaleren, weniger windlüsternen Nüstern, aber er ist mehr über den Kontinent verstreut und in den übrigen europäischen Bevölkerungen aufgegangen. Er gehört zu den Nachkommen der „Feigenfahrer“, der in südliche Wärme strebenden Langbootleute, die von Etappe zu Etappe längs der Nordseeküsten in die warmen Gebiete des Mittelmeeres einbrachen, wo die Wärme kein unnatürliches Plus aufwies wie zu Haus, sondern wirklich warme Wärme war, die ihnen, den kaltfront-empfindlichen Langnasen und blinzelnden Sonnenanbetern, angenehm über die skeptisch hängenden Mundwinkel strich.

      Aus den beiden wikingschen Typen mischte sich der atlantische Seefahrertyp, wie er an den Wasserkanten zwischen Cap Cod, Boston, den Scilly Inseln, Tromosoe und Nord- und Ostsee gedeiht, so stämmig als sehnig, mit „Schaukelmund“ und „Windnüstern“ und brauig beschatteten, horizontspähend verkniffenen seefarbenen Augen.

      Daß diese Typen wandlungsfähig in sich selber sind, wird oft beobachtet. So wurden die ursprünglichen W-Typen Fridtjof Nansen und vor ihm der Polarforscher Nordenskjöld – der allerdings nicht ruhte, bis er auf den letzten Tropfen Golfstrom mit seinem Schiff „Vega“ die Nordostdurchfahrt und Japan erreicht hatte – in der Härte ihrer Anstrengungen zu K-Typen.

      Die Nachprüfung dieser Theorie an unzähligen Bildern, an alten Wandteppichen, Gemälden, Kupfern, Reliefs, Plastiken, Fotos und Zeitgenossen hat eben erst begonnen. Sie wird womöglich einige Dunkelheiten in den Abläufen der europäischen Geschichte auflichten und die Handlungsweise dieser und jener Figur eingliedern in die Gegebenheit des einen oder anderen Wettertyps. Mit aller Rücksicht auf die Grundfesten der Entwicklungslehre und ohne eine weitschauende Entelechie leugnen zu wollen, wäre zu vermuten, daß der Forschung, soweit sie den Menschen zum Mittelpunkt hat, eine historische Bioklimatik und sozusagen eine Persönlichkeits-Meteorologie nicht wenige dienliche Schlüssel liefern würde. Denn die Umtriebe der golfischen Westwinde scheinen zumindest über Mitteleuropa ein Abbild des Golfstromsystems zu zeitigen. Einem Forscher mit empfindlichsten Antennen sei empfohlen, die politische und kulturelle Geschichte Europas daraufhin zu untersuchen. Es würde dabei auf eine Art Geistesgeographie hinauslaufen. Bioklimatische Tabellen würden Typen und Zeitgeschehen ordnen. Die Kurven der Völkerspannungen müßten gekoppelt werden mit den Skalen atlantisch-dynamischer Schwankungen, insbesondere des Golfstroms. Man würde