Der große Fluss im Meer. Hans Leip. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Leip
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711467176
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sozusagen meteorologisch bestätigte, als er den zyklothymen, vormals auch manisch-depressiv, auch zirkulär genannten Typ als „föhnempfindlich“ erkannte, als Warmfront-Typ, den anderen als kaltfrontempfindlich.

      Daß dem W-Typ im allgemeinen die alten Merkmale des freudvollen Sanguinikers im Wechsel mit denen des Melancholikers zuzuerkennen sind, hat Curry in langer Untersuchung bestätigt gefunden. Wie denn bei dem härteren Kaltfront-Typ das gleichmäßiger nebeneinander wirkende polterig-skeptisch-bohrend Cholerische und wenig Verbindliche sich mit einer tiefen Neigung zur Bequemlichkeit, zu Abgeschlossenheit und Einsamkeit paart, was äußerlich, zusammen mit der Fähigkeit, seine Gefühle zu verbergen, den Eindruck der Gelassenheit, ja des Phlegmas zu erwecken vermag.

      Selbstredend sind solche Typen selten ganz extrem anzutreffen. Unzählige Mischungsverhältnisse sind möglich. Aber jeder von uns neigt doch zu der einen oder der anderen „Front“ und findet solches bei genauer Beobachtung an Fähigkeiten, Äußerungen und Empfänglichkeiten, ja letzten Endes an seinem Schicksal bestätigt.

      Der antike Strömungsforscher Theophrastus hat übrigens eine Reihe „ethischer Charaktere“ geschildert, die eine erste vage Ahnung von bioklimatischen Einflüssen erkennen lassen.

      Es ginge zu weit, hier die moderne Typenlehre im einzelnen darzulegen, so reizvolle Spiegel sie vor jedermann aufstellt. Jedenfalls ist sie aufschlußreicher als die heute so beliebte Astrologie, obschon diese behauptet, daß die letzten Schlüssel auch für die Typenursachen in den Sternen hängen. Man möchte meinen, nur insoweit, als es bioklimatisch sicher nicht gleich ist, ob jemand im Mai oder im November gezeugt wird oder unter welchen Wetterbedingungen er seine ersten Lebenstage verbringt und wie – wenigstens für Europa – der Puls des Atlantiks, der Golfstrom, sich verhielt; was hinwiederum mit dem Zustand größerer Kreisläufe der Erdatmosphäre, mit den Sphärenströmen, mit den Mondphasen und der Sonne in Einklang steht und sicher mit einigen kosmischen Vorgängen mehr. Diese Komplexe aber nur mit den Planetenstellungen zu berechnen, scheint dürftig. Da stellt der Golfstrom ein weit genaueres Meßgebiet zur Verfügung. Womit allerdings nicht gesagt ist, daß wir schon so weit sind, seine Ausschläge als gebrauchsfähige Skalen an die Wand zu pinnen.

      *

      Und so kraß über den Daumen gepeilt es sein mag, es bleibt verführerisch, bei hervorragenden Persönlichkeiten das Typische als bedingend und die Äußerungen als typisch festzustellen. Kolumbus ist im Extrem der Typ, dem alles Enge um Hals, Herz und Hirn unerträglich ist. Solange der Wind weht, und sei es ein Bullensturm und gar ein ihm zutiefst verwandter Zyklon, ist er prächtig im Gange. Aber in der Flaute und Schwüle der Sargassosee und auch, als auf der dritten Reise die Route dem Äquator zu nahe kommt, sinkt er zusammen, und sein Herz setzt aus. Frische Luft ist, was er braucht. Darum ist ihm die leichte Kleidung des Seemanns angemessen, und er vertauscht sie schließlich mit der ähnlich „halsfreien“ der Franziskaner und wird darin auch begraben.

      Doch verbindet sich die mönchische Tracht zugleich mit dem W-Hang zur Schwärmerei. Solcher äußert sich selbst in seinen so geschäftlich aussehenden Vertragsbedingungen, die er mit Spanien ausmachte, und als seine Begeisterung für die entdeckten „paradiesischen Gefilde“ abkühlen muß, geht sein Schwärmbedürfnis ins Religiöse über und weist schließlich pathologische Züge auf.

      Daß er als Landschaftsschilderer hervorragt, ein wahrer Augenschwelger ist und überzeugend zu berichten weiß, daß er überdies vertrauensselig ist und den Anblick des Goldes noch mehr schätzt als dessen Besitz, daß er im Versprechen ohne Maß und Halt, im Halten aber hilflos ist, stimmt zum Bild, das die modernen Experimente für den W-Typ ergeben. Daß auf gesteigerte Leistung das Elend der Erschöpfung folgt, daß ein Mißlingen – falls nicht sofort eine Übersteigerung des Selbstbewußtseins Raum hat – die Gefahr völligen Zusammenbruchs heraufbeschwört, alles trifft bei Kolumbus zu. Nicht vielleicht so sehr, um ihn zu demütigen, als um ihn am Selbstmord zu hindern, schickte ihn der kaltschnäuzige amtliche Kontrolleur von der zweiten Reise nebst seinen beiden Brüdern in Ketten nach Haus.

      Übrigens lag der Anlaß in einer Übersteigerung, die für den Typ befremdlich erscheinen mag. Der Entdecker hatte sich mit Meuterei, Verrat und Übeltat seiner „Getreuen“ auseinanderzusetzen. Er, jeder Gewalttat abhold, typisch zur Versöhnung und Schlichtung neigend, empört auch über die Mißhandlung von Eingeborenen, gerät in maßlosen Zorn – ein Zustand, in dem er wie ein genuesischer Hafenlöwe fluchte und seine spanischen Vokabeln vergaß – und läßt die mehr und minder Schuldigen henken, ohne den Fall im einzelnen zu untersuchen. Er bereute bald aufs bitterste, obschon er später alles tat, sich gerechtfertigt zu finden. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß er für die Eingeborenen, die an gelandete „weiße Götter“ geglaubt hatten und sogar noch deren Schandtaten als göttlich hinzunehmen geneigt waren, die Hinfälligkeit dieser „Dämonen“ aufzeigte, indem er sie am Galgen baumeln ließ.

      Im Grunde war es eine gerechte Entlarvung. Wenn der Nimbus des weißen Mannes dennoch bis heute in manchen Kolonien aufrechterhalten werden konnte, lag es teils an militärischen Macht- und Glanzmitteln, teils an der Anständigkeit einzelner Missionare, Mediziner, Krankenschwestern, Händler und Forscher.

      *

      Unter die vorbestimmten Golfstromüberwinder haben sich mehr aus Gelegenheit denn aus Trieb bald die kälteren Seelen gemischt und die Führung übernommen. Kolumbus hat geradezu zwangsweise solche K-Typen in die Neue Welt verfrachtet, er hat, da der Mannschaft- und Siedlerzulauf anfangs gering war, sogar Gefängnisse leeren lassen, und notorische Tunichtgute, die nur mitgingen, weil ihnen der Boden unter den Füßen zu heiß war – der Ausdruck scheint wiederum golfstrombedingt –, gliederte er freundlich ein in die christliche Seefahrt und verschaffte ihnen die amtliche Zusicherung der Straffreiheit. Die Wandlung des Paradieses zur Hölle ließ dadurch nicht lange auf sich warten. Immerhin schwang der Ablauf sichtlich im Zirkel des Golfstroms.

      Denn man war auch daheim nicht kleinlich. Die Inquisition in Spanien feierte ihre grausigsten Triumphe. Im gleichen Jahre, da Kolumbus ausfuhr, hatte man die letzten Mauren vertrieben, erschlagen oder zu Sklaven gemacht, ihre Kultur zerstört und ihren Besitz übernommen. Und nun nahm man die Juden vor. Wer nicht durch Bestechung und Gewandtheit nachweisen konnte, daß er wahrhaft katholisch geworden sei, endete auf dem Scheiterhaufen oder durfte – in milderen Fällen – mit Hunderttausenden von Glaubens- und Leidensgenossen völlig enteignet und ausgeraubt das Land verlassen. Somit konnten sich die staatlichen und kirchlichen Großmetzger kaum wundern, wenn man den Kariben das Zeichen des Gekreuzigten nicht nur als bloßes Symbol unmenschlichen Martyriums aufpflanzte. Immerhin befand man sich in jenem Jahrhundert noch im sogenannten Mittelalter und hatte die Bergpredigt noch nicht verstanden und das Wort Humanismus eben buchstabieren gelernt. Wir haben nicht das Recht, auf jene Massenfolterungen herabzublicken. Denn was in jüngster Zeit an Unmenschlichkeiten in Mittel- und Osteuropa geschah, stellt selbst die Ausrottung der rechtmäßigen Besitzer Amerikas in den Schatten.

      Hätte man vermocht, den Kariben den Geschmack an Menschenfleisch und Kopfjägerei durch etwas wahrhaft Höheres zu ersetzen, könnte man heute mit weniger Grauen auf die Geschichte der Entdeckungen zurückblicken. Was man ihnen aber als europäische Segnung brachte, war das, worunter der weiße Mann zur Strafe selber seufzt: Steuern und Fronarbeit.

      Kolumbus selber ordnete an – beraten von den staatlichen Gerichtsexperten –, jedem Eingeborenen, der nicht sein vorgeschriebenes Quantum Gold ablieferte, Nase und Ohren abzuschneiden. Belgische Beamte am Kongo begnügten sich noch vor wenigen Jahrzehnten in ähnlichen Fällen mit dem Abhacken der Hände. Wir aber hatten das KZ.

      Doch läßt sich über keimende Empfindsamkeit auch von damals berichten. Als sich herausstellte, daß die neuen Länder trotz grausamster Auspressung vorerst noch immer Zuschüsse erforderten, um die Auspresser zu unterhalten, und selbst die manische Phantasie des Kolumbus keine Beschönigung mehr fand, kam er auf die Idee, das Geld für weitere Expeditionen zur endlichen Auffindung der überall spukenden und ersehnten ungeheuren Gold- und Edelsteinschätze auf folgende Weise aufzubringen: Er verfrachtete eine Ladung jener Leute, denen er Land und Besitz geraubt, als Sklaven nach Europa. Das aber nahm die kirchlich fromme Isabella ihm übel, die doch ohne Wimperzucken dem Abschlachten von Tausenden intelligenter Mauren und Juden beigewohnt hatte. Sie