Der große Fluss im Meer. Hans Leip. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Leip
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711467176
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befaßt und ihn als ein riesiges System von fortlaufenden Strudeln und Gegenstrudeln erkannt. Das holländische Wort Golfen bedeutet Woge, Sturzsee, Brecher.

      Im ganzen scheint die Sache einfach. Es ist nicht viel anders als mit jedem Bache, der sich schlicht dahinzuschlängeln scheint, dem man aber auf die Schliche kommt, wenn man einen hineingeworfenen Grashalm beobachtet. Welche Kapriolen doch vollführt das kleine Versuchsboot, zumal an den Krümmungen, dreht sich, kreist, gleitet ein Stück zurück, taucht unter, schießt in der Tiefe Kobolz, taucht wieder auf, zögert, wendet und eilt – falls es nicht strandet – schließlich dennoch davon.

      Ermittlungen dieser Art sind allerdings im Golfstrom schwieriger: Man müßte das Auge Gottes haben, betrachtend aus himmlischer Höhe, meinte einer der Forscher; denn das gewaltige Bett des Golfstroms ist selbst vom Flugzeug aus schwierig zu belauschen. Weit weniger aber von einem Schiffe aus, das in der ungeheuren Weite selber einem Grashalm gleicht. Man ist trotzdem zu beachtlichen Ergebnissen gelangt. Wir werden über die allmähliche wissenschaftliche Erkundung der Golfstromgeheimnisse einiges erfahren. Es ist eine Geschichte, die sich wie ein Jahrhunderte währendes Legespiel aus Tausenden kleiner Einzelbeobachtungen zusammenfügt. Und die besten modernen Erforscher des Golfstroms geben zu, daß noch immer Lücken zu füllen sind.

      Im großen und ganzen aber weiß man über den Golfstrom Bescheid. Man weiß, es handelt sich um einen Wasserkreislauf, der den ganzen Nordatlantik umfaßt, um ein Strömungssystem, das von der Biskaya im sogenannten Portugalstrom an der afrikanischen Küste aufwärts zieht und dort Kanarenstrom heißt, der bei den Kapverdischen Inseln nach Westen umschwenkt und als Nordäquatorialstrom gen Westindien kreist, sich in der Karibischen See staut und durch die Floridastraße wieder in den freien Ozean tritt. Ein Teil des Äquatorstroms bleibt außerhalb der Inselkette und heißt Antillenstrom. Hinter den Bahamas vereinigt er sich mit dem Floridazweig. Erst von dort an spricht man geographisch vom Golfstrom, der dann in Richtung der nordamerikanischen Küste gen Neufundland zieht und von dort zu den Azoren hinüberschwingt, um teils in den Kanarenstrom zurückzukreisen und so die große Turbine zu vollenden, teils aber nach Norden zu entweichen, nicht ohne hier und da eine Raute seiner tropisch gewärmten Flut seitwärts zu senden.

      Schlängelnd, mäandernd, strudelnd, doch mehr sachte als sichtbar, unaufhaltsam trotz aller Verzweigung die Richtung haltend, besteht dieses System sonderbarer Weitfährwege wahrscheinlich schon sechzig Millionen Jahre. Und sicher haben die Fischer und Mönche von Cobh und Cork und den vier Dutzend natürlichen Häfen der Grünen Insel Jahrhunderte vor Kolumbus und Corte Real, ja vor den Wikingern, das nötige Wissen davon gehabt, als sie auf den Neufundlandbänken Codfish, Kabeljau, angelten, lange bevor den Portugiesen Nachricht zusickerte von den saftigen Bacalhão-Fängen dort hinter der grauen, dämonengesegneten Kimm im Westen. Es hat sicher schon früh einen gewissen atlantischen Wettlauf verschiedener „Anlieger“ nach den „Meersilbergruben“ gegeben, die bis heute, am Nordbuckel des Golfstroms gelegen, unerschöpflich sind. Aber die frühen Teilnehmer von Aalesund, Haithabu bis hinunter nach Vigo und Palos haben wenig Notiz voneinander genommen und noch weniger Nachrichten über ihre Geschäftsreisen ausgetauscht oder gar hinterlassen. Ihre Segelkurse vererbten sich unter der Hand von Sippe zu Sippe. Und die Großhändler der Umschlagplätze für getrockneten oder gesalzenen Kabeljau, für Stockfisch und Laberdan, waren betreffs der Bezugsquellen und Herkünfte ihrer Ware verschlossener als die Akten jeglicher Geheimpolizei. Konkurrenz ist ein alter Begriff. Und die Abnehmer für die Fastentage fragten nicht lange, woher die dienliche Speise kam.

      Wie immer sich jene frühen Fahrten in die scheinbar pfadlosen Meeresweiten abgespielt haben mögen, die wunderliche Ausnahme, das fließende Wegenetz des Golfstroms, wird dem naturscharfen Spürsinn der ersten Hochsee-Teerjacken nicht entgangen sein. Daß sie solche Selbstverständlichkeiten nicht des Geredes wert hielten, ist jedem klar, der Seeleute kennt. Kein Jantje von Format hat jemals für lohnend erachtet, über seinen Beruf zu schwatzen. Mag sein, daß seit Urzeiten bestimmte Übereinkünfte bestehen, vormals bewußter als heute, dennoch bis heute wirksam, über naturmächtige Beziehungen Stillschweigen zu bewahren. Es gibt bis in unsere aufgeklärten Tage christlicher Färbung eine Menge mehr „Tabus“, als unsern Pastoren recht ist, zumal in den immer noch vertrackten Belangen der Seefahrt. Und namentlich auf der golfischen Strecke, die so reich mit wetterwendischen Launen und Tücken gesegnet ist.

      Oder sollten die Hurrikans und Zyklone dieser nassen Gefilde erst durch den Mangel an Ehrfurcht hochgelockt sein? Hast du, Tlaloca, etwa verdrießlich gefunden, lang und breit abgemessen zu werden und dich dem Schwall der Mitteilung ausgeliefert zu finden?

      Du solltest dich längst an die Neugier des erwachten Europäers gewöhnt haben, denn im Grunde ist sie dein Werk. Du hast nicht geruht, ihn nach deinem Bilde zu formen, den weißen Mann, hast seine Unruhe auf dem Gewissen, seine Sucht ins Weite, seine Gier, über die stille Einfalt der Kreatur hinauszustreben und gleich dir das Ferne und Abseitige aufzusuchen. Wie wir sagten, hat deine Golfstrom-Heizschlange ein sonderbares Treibhaus aus den europäischen Gegebenheiten gemacht. Kein Wunder, daß dieses erstaunliche Dinge hervorgebracht hat, ein Übermaß an Gut und Böse, das, überdies zu begackeln wie die Henne das Ei und in Büchern unter die Leute zu bringen, wohl das Merkwürdigste an menschlicher Artung darstellt. Du wirst verstehen, diese geistige Übervegetation konnte nicht haltmachen, auch nicht vor dir, mit ihren alles betastenden Ranken und Saugwurzeln.

      *

      Kehren wir zu den einfachen Tatsachen zurück. Wieso ist überhaupt ein Wasserstrom im Wasser möglich? Er hat doch nicht wie ein Bach und Fluß feste Ufer. Und doch hat er Ufer. Die warmen Flutmassen des Golfstroms gleiten und wirbeln zwischen kälteren, elastischen, aber zumeist klar abgegrenzten Wasserwänden dahin. Die Ausmaße sind unvorstellbar riesig. Alle Ströme aller Kontinente zusammen, Jenissei, Ob, Jangtsekiang, Wolga, Donau, Elbe, Rhein, Nil, Kongo, Mississippi, Amazonas, und was wir sonst noch von der Schule her aufzählen können bis hinab zum lokalsten Rinnsal, das alles zusammen vermag nicht ganz die Wassermenge des Golfstroms aufzuwiegen. Durch die Straße von Florida pressen sich stündlich rund hundert Milliarden Tonnen warmen Salzwassers in den Ozean. Das übertrifft das Zwanzigfache aller Frischwasserzufuhr der Weltmeere, das heißt alles, was aus sämtlichen Flußmündungen und Regenwolken und den arktischen und antarktischen Gletscher- und Schmelzwässern sich in die See ergießt.

      Betrachten wir das gigantische Fließband! Wenn auch nicht seit den Zeiten, da es noch unklar war, ob jemals aus dem Urschleim der Meere und seinen ersten Zuckungen die lebendige Zellenhäufung beginnen würde, die eines Tages auf dem Trockenen sich bis zur Bergpredigt, der Neunten Symphonie und der Wasserstoffbombe befähigt erzeigen sollte, rollt es doch schon so lange dahin, daß es wie Mythos ist, rollt dahin, so stetig wie die jagende Erde selber, doch, mit ihrer Geschwindigkeit verglichen, höchst gelassen, nämlich im Durchschnitt etwa so schnell, wie ein pünktlicher Beamter sich des Morgens zu Fuß ins Büro begibt.

      Getrieben von der Preßluftpumpe der Passatwinde, wühlt nicht nur nördlich, sondern auch südlich des Äquators eine breite Meeresdrift nach Westen über den Atlantik, ungeachtet der ihr entgegenfließenden und sich dazwischendrängenden Guineaströmung. Die Äquatorialströme treffen auf das Kinn Brasiliens und preschen auseinander. Die Hauptmasse des Schwells biegt nach Nordwesten und läuft an der Küste entlang, vorbei an der Orinokomündung, und drängt zwischen den Kleinen und Großen Antillen hindurch in die Karibische See. Die verhältnismäßig engen Durchlässe zwischen Venezuela und der Insel Trinidad heißen entsprechend Schlangenmaul und Drachenschlund und flößten schon den weißen Entdeckern und Konquistadoren Respekt ein. Sie gewährten deren Schiffen wohl die Gnade, hineinsegeln zu können (Kolumbus erprobte es auf seiner dritten Reise). Die Ausgänge aus dem Mar Caribe aber mußten anderswo gesucht werden, und sie scheinen von weitem so zahlreich wie beim Kolosseum zu Rom, nahebei aber erweist sich, daß nur wenige Pforten passierbar sind. Der „löchrige Zaun der hundert Inseln“ vorm Atlantik bietet keineswegs überall einen bequemen Durchschlupf. Auch nicht für den gewaltigen Meeresstrom, der Neigung zeigt, die gestörte Äquatorrichtung möglichst bald wieder einzuschlagen.

      Vorerst aber stauen sich die Wassermassen. Es ist keine Möglichkeit, sich der großen Gleicherströmung, die auf der andern Seite des Hindernisses Südamerika im Stillen Ozean weitergeht, wieder anzuschließen. Es