Tod in der Hasenheide. Connie Roters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Connie Roters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863270667
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Connie Roters

      Für Waltraut und Oskar – in Liebe

      Für Sabine und Peter –

      ohne euch wäre ich nie so weit gekommen

      SONNTAG

      Der schrille Alarm riss Cosma Anderson aus dem Traum. Sie atmete schwer und schlug wütend auf den Wecker ein. Der Pyjama klebte an ihrem Körper. Sie hatte wieder die beiden Männer gesehen. Nacht für Nacht derselbe Traum, dieselbe Angst, derselbe Ekel. Und Wut. Sie streckte sich, bis ihre Gelenke knackten, und starrte an die Zimmerdecke. Aufstehen, laufen, nur nicht nachdenken, befahl sie sich, schaltete das kleine Transistorradio auf dem Nachttisch ein und setzte sich auf. Eine fröhliche Stimme verkündete die neusten Informationen aus der Stadt. Mürrisch würgte sie die Nachrichtensprecherin ab und suchte nach Musik. The Cure, das passte. Ihr Blick glitt langsam zum Fenster. Heftiger Wind rüttelte an den Bäumen im Hinterhof und schob schwere dunkle Regenwolken vor sich her.

      Wieder so ein Sommertag, der denkt, dass er ein Herbsttag ist, dachte sie verstimmt.

      Unwillig verließ sie das Bett und schlurfte in die Küche. Der steinerne Terrazzoboden war kalt, und sie wechselte fröstelnd von einem Fuß auf den anderen. Während sie das Kaffeepulver in die Espressokanne füllte, sah sie in den Hinterhof hinunter. Eine der Nachbarskatzen tat sich an dem Müll gütlich, den die Krähen aus den Tonnen gezogen und rundherum verteilt hatten. Die Vögel schimpften aus sicherer Entfernung.

      Sie stellte den Espressokocher auf den Herd, und kurz danach erfüllte die Küche ein herber Kaf feeduft. Cosma sog ihn gierig ein, ging mit der Tasse in beiden Händen ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage an. Sie suchte den gleichen Sender wie im Schlafzimmer, dann stellte sie sich hier ans Fenster. Die schweren Regenwolken schienen fast das Haus zu berühren. Der Wind peitschte den Regen gegen die Scheibe und wühlte das Wasser im Kanal auf. Eine Plastiktüte trieb eilig vorbei. Auf der Straße versuchte ein alter Mann seinen Regenschirm aufzuspannen, aber die heftigen Böen vereitelten seine Bemühungen. Als zwei Rennradler direkt an ihm vorbeisausten, wich der Mann erschrocken aus. Of fenbar gab es noch mehr Verrückte, die sich bei diesem Wetter auf die Straße prügelten, und sie fragte sich, warum auch sie dazugehören musste.

      Abrupt drehte sie sich vom Fenster weg und eilte zurück in die Küche, stopfte sich dort hastig eine Banane in den Mund und grif f nach den Sachen, die sie am Abend zuvor über den Küchenstuhl gehängt hatte. Die altgeliebte Jogginghose, das T‑Shirt mit den Brandlöchern und die neuen Laufschuhe, die sie sich erst gestern Nachmittag gekauft hatte. Sie war wieder einmal viel zu lange in den alten gelaufen, trennte sich nur schwer von ihren Sachen und hasste es, einkaufen zu gehen. Den Schuhkauf hatte sie monatelang vor sich hergeschoben. Eigentlich hatte sie in letzter Zeit alles vor sich hergeschoben. Die Steuererklärung, die Überweisung der Telefonrechnung, die Telefonate mit ihren Bekannten und den Besuch bei ihrer Schwester.

      »Und jetzt Schluss mit dieser Selbstanklage«, murmelte sie, »jetzt gehe ich ins Bad, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und laufe los.«

      Mittlerweile regnete es wasserfallartig. Eine Windböe traf sie so heftig, dass sie schwankte und fast hingefallen wäre. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, umzudrehen und sich mit einer Tasse Tee und dem Buch, das sie gestern Abend begonnen hatte, aufs Sofa zu legen. Aber dann trieb ein innerer Drang sie voran, immer weiter, nicht ausruhen, an die eigenen Grenzen gehen.

      Sie schob sich die kleinen Kopfhörer tiefer in die Ohren, schaltete den iPod an und setzte sich langsam in Bewegung. Ein kurzer, heftiger Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Vor vier Wochen war sie beim Laufen umgeknickt und hatte sich den rechten Fuß verstaucht. Erst vor drei Tagen hatte sie ihr Training wieder aufnehmen können und war noch immer ziemlich steif. Vorsichtig lief sie weiter. Der Schmerz ließ etwas nach.

      Cosma war froh, endlich wieder laufen zu können. Sie joggte viermal in der Woche, an festen Tagen, zu festen Zeiten und immer dieselbe Strecke. Wenigstens das hielt sie konsequent durch. Es gab ihr Halt.

      Sie rannte am Wasser entlang und versuchte, die zahlreichen Pfützen zu umrunden, die der Dauerregen geformt hatte. Mit Bedauern warf sie einen kurzen Blick auf ihre mit Schlamm verspritzten neuen Schuhe und bereute es, die alten gestern Abend kurzerhand in die Mülltonne befördert zu haben. Vor ihr tauchte der alte Mann mit dem großen Regenschirm auf. Mittlerweile war es ihm gelungen, ihn aufzuspannen.

      Sie überquerte den Kottbusser Damm, hielt sich links und bog in die Graefestraße ein. Sie liebte die alten stuckverzierten Häuser, die kleinen Läden und die bunten Kneipen und Restaurants. Seit Jahren schon träumte sie davon, sich hier eine Eigentumswohnung zu kaufen, aber dieser Traum würde wohl einer bleiben. Ihre f inanzielle Situation hatte sich in den letzten sechs Monaten drastisch verschlechtert. Zurzeit lebte sie von der Hand in den Mund und brachte nur mit Mühe das Geld für die Miete auf. Wenn es so weiterlief, würde sie bald zum Amt gehen und sich in die lange Schlange vor dem Neuköllner Jobcenter einreihen müssen. Der Gedanke gruselte sie, und sie beschleunigte das Tempo. Ihr Fuß schmerzte immer noch.

      Nach einer Weile hatte sie sich eingelaufen und verf iel in den gewohnten Trab. Ihr Körper erinnerte sich. Sie liebte es, in Bewegung zu sein, es hatte etwas Kindliches. Rennen, wie früher.

      Sie lief die grün belaubte Straße entlang hinauf zum Park. Nur wenige Autos waren unterwegs. Die Menschen lagen noch in ihren warmen Betten. Es war Sonntag. Sonntagmorgen, halb sechs. Sie überquerte die Hauptverkehrsstraße, ohne auf die rote Ampel zu achten, ließ den menschenleeren Minigolfplatz links liegen und lief hinauf in die Hasenheide. Selbst bei diesem Wetter und zu dieser frühen Zeit standen die Dealer Spalier, eingehüllt in Kapuzenregenjacken, jederzeit bereit, ihr alle erdenklichen Drogen zu verkaufen. Zügig rannte sie an den Männern vorbei und bog in den Rundweg ein. Vor vielen Jahren war er gepflastert worden. Die Radfahrerlobby hatte sich dafür starkgemacht. Damals hatte sie das geärgert, denn sie war lieber auf dem Kies und dem Sand gelaufen, aber heute war der Asphalt besser als die alten Schlammwege, auf denen man bei einem solchen Wetter immer zu versinken drohte.

      Der Weg machte eine Rechtskurve, danach verdichtete sich der kleine Parkwald. Die Bäume verdeckten fast den alten Tunnel, der die Ostseite mit der Westseite verband. Da er mit dichtem, dornigem Gestrüpp umwachsen war, konnte man ihn nicht umlaufen. Sie hasste den Tunnel, er war dunkel und stank, und sie hatte immer ein bisschen Angst. Angst vor dem schummerigen Licht, Angst vor Ratten und Angst vor den Männern. Langsam lief sie weiter. Unter ihren Füßen knirschten Glassplitter. Die Penner hatten mal wieder im Suf f ihre Schnapsflaschen zerschlagen. Sie selber lagen wahrscheinlich irgendwo herum und schliefen ihren Rausch aus, hof fentlich noch zu besoffen, um sie zu bemerken.

      Das Tageslicht verdunkelte sich. Sie fröstelte.

      Vor ihr lag etwas auf dem Boden. Der Anblick brachte sie aus dem Tritt. Fast wäre ich darüber gestolpert, dachte sie. Die Form unterschied sich von den mumienhaften Schatten, die sonst den Tunnelgrund bedeckten. Cosma hielt mit dem Joggen inne und näherte sich vorsichtig der schemenhaften Gestalt. Es war ein Mann. Er lag zusammengekrümmt auf der Seite. Kein Kissen. Kein Schlafsack. Und der übliche Gestank fehlte.

      Sie lauschte. Der Wind pf if f durch den Tunnel. Das Rauschen der Bäume verband sich mit dem Regen.

      »Hallo?«, sprach sie ihn leise an. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

      Der Mann antwortete nicht. Sie ging noch einen Schritt näher. Unter ihren Füßen schmatzte es leise, und sie sprang erschrocken zurück, sah das dunkle Blut und spürte, wie ihr übel wurde. Nur schnell weg, dachte sie, konnte sich aber nicht regen. Ein leises Rascheln ließ sie zusammenfahren, sie dachte an die Ratten, und ihre Starre löste sich. Vorsichtig trat sie einen Schritt nach links, umrundete den Mann und lief los. Wieder in Bewegung zu sein, tat gut, gleich würde sie den Tunnel verlassen. Sie steigerte ihr Tempo. Um sie herum wurde es langsam wieder heller. Dann spürte sie den Regen auf ihrem Gesicht und atmete erleichtert auf.

      Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich und jemanden rufen:

      »He, bleiben Sie stehen! Sofort stehen bleiben!«

      Die Schärfe der Stimme durchschnitt