Skelett des Grauens. Martin Willi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Willi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301210
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ihrer besten Freundin und freute sich auf den Schultag. Sie konnte nicht ahnen, dass heute Abend alles anders sein würde, dass ihr Leben nie mehr so sein würde wie es jetzt war.

      Kurz vor 18 Uhr trat Monika in die Küche ihrer elterlichen Wohnung, die sich unweit des Dorfladens befand. Und das war auch gut so, denn so hatte Rosmarie Oeschger nur wenige Meter zu gehen, wenn sie zur Arbeit musste. Seit sechs Jahren bereits arbeitete Monikas Mutter in Teilzeit als Verkäuferin. Ihr Mann August war als Spediteur bei der renommierten Firma Kuratle in Laufenburg tätig. Zusammen konnten sie sich ein gutes Einkommen erwirtschaften, damit ihren Kindern Monika und Bruno, der sechs Jahre älter war als Monika und bereits eine Elektrikerlehre beim Hegi in Laufenburg absolvierte, an nichts fehlen sollte.

      «Monika, du kommst heute aber spät. Warst du noch bei einer Freundin?»

      Verstört und zitternd stand das kleine Mädchen da, der eine Haarzopf war aufgelöst, die Haare hingen ihr ins angsterfüllte Gesicht. Ihre Bluse war nur halb zugeknöpft, ihre dünnen Ärmchen hingen kraftlos am Oberkörper entlang.

      Erst in diesem Moment sah Rosmarie ihre Tochter richtig an. «Monika, was ist mir dir?», rief sie erschrocken. Dabei entglitt ihr beinahe die Pfanne mit dem heissen Wasser, indem sie die Kartoffeln kochen wollte.

      Monika lief auf ihre Mutter zu und umarmte sie innig. «Ich war noch bei einer Freundin, da bin ich hingefallen und habe mir ganz fest weh getan.»

      Noch vor dem Abendessen hatte Monika lange und ausgiebig geduscht. Sie musste wieder sauber werden. Ich muss den Dreck von mir waschen! Er muss weg, einfach weg! Es fiel ihr auf, wie sehr ihr Bruder Bruno sie während des Essens beobachtete und musterte. Keine Sekunde schien sein Blick von ihr zu weichen. Ob er etwas ahnte, gar etwas wusste?

      Bruno, ja ihm kann ich vielleicht erzählen, was heute mit mir geschah. Im Auto, unter den Tannen im tiefen dunklen Wald, mit dem schwarzen Mann. Aber wird Bruno mich dann noch lieben, wenn ich mich ihm anvertraue? Was werden meine Eltern sagen? Nein, ich darf es niemandem erzählen, sonst kommen Bruno und meine Eltern nicht mehr zur Ruhe. Sie würden sich bis ans Ende ihres Lebens wegen mir schämen. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, vielleicht bilde ich mir alles nur ein. Der schwarze Mann hat auch gesagt, dass es nicht schlimm ist.

      Schlafen konnte man das was Monika in dieser Nacht tat, nun wirklich nicht nennen. Sie träumte davon, wie sie sich an einem einsamen, vollkommen menschenleeren, Strand befand, sie lag auf einem harten kalten Sand. Viele spitzige Steinchen waren mit dem Sand vermischt und sie stachen sie fortwährend in ihren Rücken, dessen Blut in den Sand tropfte. Ihr Blut und der Sand vermischten sich zu einer riesigen Menge roter Erde. Sie sah, wie sich ihr unzählig viele schwarze Männer näherten. Die Männer riefen allesamt ihren Namen, immer wieder: «Monika, Monika, Monika». Zuerst ganz leise, dann lauter, immer lauter.

      Er hingegen schlief in dieser Nacht wie ein kleiner süsser Engel. Seine Augen blickten glückselig hinaus in die Welt, bevor er sie auf seinem Hirsekissen schloss.

      Er träumte seinen allerliebsten Traum, auch er befand sich an einem einsamen idyllischen Strand, er lag nackt wie Gott ihn schuf im warmen weichen Sand. Sein nackter Körper gefiel ihm, er war stolz auf sein bestes Teil. Aber er war nicht allein am Strand, mit ihm waren viele Mädchen und Knaben, unzählig viele schienen es zu sein. Und sie wollten alle nur das Eine, sie wollten ihn berühren, lieben, streicheln, küssen. Er war überglücklich, er schwebte wie im siebten Himmel. Er genoss es in vollen Zügen, von den Kindern liebkost zu werden.

       5) Freitag

      Das ist hier ja wirklich wie am Ende der Welt, ich hab’s ja schon immer gesagt, nach mir die Sintflut, dachte sich Petra als sie am heutigen Septembermorgen von Laufenburg ins Mettauertal fuhr, in die alte Heimat von Ulrich. Dorthin wo er als kleiner Junge eine unbekümmerte Kindheit erlebte, wie er ihr mal erzählt hatte. Als sie vom Kaistenberg herkommend rechts den Wald von Laufenburg erblickte, so dachte sie zurück an den Fall von Sabrina Eckert, die hier tot aufgefunden wurde. Was für ein dubioser Fall. Bis heute weiss man immer noch nicht, wer diesen Pedro Alvare damals auf so bestialische Art und Weise umgebracht hat. Ob es wirklich seine Tochter Maria-Dolores war? Maria-Dolores, was machst du wohl? Ach egal, ich muss mich auf heute konzentrieren. Das Opfer, das am Montag in Hirschthal gefunden wurde, ist ja auch ziemlich furchtbar ums Leben gekommen.

      Ihr Navigationsgerät führte sie auf direktem Weg zum Bauernhof, wo einst dieser spurlos verschwundene Christian Gautschi gelebt hatte. Wie sie mittlerweile herausfand, verstarben Gautschis Eltern schon früh und auch sein einziger Bruder Robert kam bei einem Unfall mit seinem Mofa ums Leben. Gautschi lebte alleine und zurückgezogen auf diesem Bauernhof mit seinen Tieren. Er galt offenbar als ruhiger, freundlicher und hilfsbereiter Mann.

      Wie kann man hier bloss wohnen, dachte sich Petra als sie ihr Fahrzeug anhielt, den Motor abstellte und ausstieg. Das erinnert mich alles sehr an den Kriminalroman «Tannöd» der deutschen Autorin Andrea Maria Schenkel. Genauso verlassen habe ich mir den Hof der Familie Danner damals vorgestellt als ich das Buch las. Das Buch erschien im Januar 2006 und wurde drei Jahre später unter gleichem Titel verfilmt. Und auch der Film vermochte Petra gleichermassen zu begeistern wie das Buch. «Scheisse», als erstes trat sie schon mal in eine dreckige Pfütze. Sie reinigte ihre Schuhe so gut es ging auf einer Wiese. Dann schritt sie zur Eingangstüre und suchte nach einer Klingel, die es hier jedoch ganz offenbar nicht gab. Deshalb versuchte sie sich mit Klopfen an die Türe bemerkbar zu machen, jedoch vergeblich. Sie drückte langsam die Klinke nach unten, die Türe liess sich ohne weiteres öffnen. «Hallo, ist hier jemand?» Schon wollte sie eintreten, doch dann hielt sie inne, ihre Ohren vernahmen ein Traktorengeräusch, das sich langsam dem Hof näherte. Sie zog die Türe wieder zu und trat zurück zu ihrem Auto, dabei musste sie gut aufpassen, dass sie nicht wieder in eine Pfütze oder etwas Schlimmeres trat, das den Namen Scheisse noch besser verdient hätte. Beim Auto angekommen spähte sie in die Richtung, aus der das knatternde Geräusch zu hören war.

      Da sah sie ihn kommen, oder besser gesagt, sie sah Petra kommen, eine Frau steuerte den roten Traktor Marke New Holland TL 80 A aus dem Jahre 1999 auf den Platz vor dem Bauernhof.

      Marlene Meyer zog ihr Kopftuch, das sie zum Schutz ihrer Haare trug, nach hinten und blickte verwundert zur fremden Frau, die sich auf ihrem Grundstück befand. Besuch war sie sich hier in der Einsamkeit nicht gewohnt. «Guten Tag», sie stieg aus der Fahrerkabine und trat näher, «wollen Sie zu mir, oder haben Sie sich etwa verfahren? Das ist hier in dieser Gegend durchaus möglich. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?»

      «Guten Tag, mein Name ist Petra Neuhaus, ich komme von der Kriminalpolizei des Kantons Aargau.»

      Skeptisch und voller Argwohn betrachtete Marlene mit ihren braunen Rehaugen zunächst den Ausweis, dann die Frau, die ganz offensichtlich etwas von ihr wollte, denn sonst wäre sie ja wohl nicht hierhergekommen. Und sie würde nicht mit diesem forschenden, fordernden Blick vor ihr stehen. Mit den Worten «Was kann ich für Sie tun?» reichte sie ihr den Ausweis zurück.

      «Vor über zehn Jahren lebte doch ein gewisser Christian Gautschi hier auf diesem Hof, nicht wahr?»

      Einen kurzen Moment herrschte Ruhe, nur das Rufen der kreisenden schwarzen Krähen am Himmel war zu vernehmen. Marlene setzte ihre rundliche, aber durchaus nicht unattraktive Figur in Bewegung und trat Richtung Eingangstüre. «Möchten Sie nicht reinkommen?»

      Wenige Minuten später sassen sich die beiden Frauen am Tisch der spärlich eingerichteten Bauernküche gegenüber und tranken ein Glas Zitronenwasser, das Marlene frisch zubereitet hatte.

      Frisches Zitronenwasser, das hat meine Mutter auch immer gemacht als ich noch ein kleines Mädchen war, erinnerte sich Petra etwas wehmütig, bevor sie sich wieder an Marlene wandte. «Wohnen Sie alleine hier?»

      «Ja und nein, meine Tochter Caroline hat noch ein Zimmer hier, aber sie lebt eigentlich in Basel in einer WG. Sie studiert Jura und in ihrer Freizeit jobbt sie in einer Bar, daher ist sie nur selten bis gar nie hier. Können Sie mir jetzt bitte erzählen, worum es geht, warum Sie hier sind?»

      Petras Nachforschungen