Skelett des Grauens. Martin Willi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Willi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301210
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zwei Wochen schon tätig war. Er freute sich auf die Arbeit, denn die Wochenenden sind für Ibrahim oft lange und auch einsam. Eine Freundin hatte er zurzeit nicht, wer will sich schon mit einem Araber einlassen, auch wenn sich dieser als Schweizer fühlt und auch so spricht. Und seine Freunde, das waren vor allem seine Arbeitskollegen. Den Sonntag hatte er grösstenteils vor dem Fernseher verbracht, er sah sich ein Fussballspiel und das Formel 1 – Rennen an, das von Lewis Hamilton gewonnen wurde. Ansonsten war es ein eher langweiliges Wochenende. Daher war Ibrahim nun richtiggehend froh, dass er sein Tagewerk beginnen konnte.

      «Guten Morgen Ibrahim», begrüsste ihn sein Vorgesetzter Thomas Steiner, zu dem er ein gutes kameradschaftliches Verhältnis pflegte.

      «Guten Morgen Thomas, gibt es heute etwas Besonderes?»

      «Nein, alles wie geplant, du kannst an deinem Aushub weitermachen. Willst du einen Kaffee bevor du beginnst?» Mit sichtlicher Vorfreude drückte Thomas auf die Taste der Kaffeemaschine, die sich denn auch sofort brummend ans Werk machte und die Kaffeebohnen zu mahlen begann. «Ein kleines Wunder, so eine funktionierende Kaffeemaschine, da kommt doch Freude auf, nicht wahr, Ibrahim?»

      «Nein danke», lehnte Ibrahim das stärkende Getränk ab, «ich bin hier zum Arbeiten und nicht zum Kaffeetrinken. Und du weisst doch, dass ich lieber Tee trinke als Kaffee.»

      «Jaja, ich trink für dich auch noch einen Kaffee. Oder vielleicht auch deren zwei.» Thomas Steiner machte sich nun wirklich nichts aus Tee und konnte Ibrahims Vorliebe absolut nicht verstehen. Tee, so meinte Thomas, trinken nur alte Frauen und er höchstens mal in der allergrössten Not, wenn er krank war. Und das kam nur alle Schaltjahre einmal vor.

      Ibrahim verliess das Baustellenbüro und ein aromatischer Kaffeeduft folgte ihm hinaus, bevor er die Türe hinter sich wieder zuzog. Einige Meter noch konnte Ibrahim den Kaffeeduft hinter sich wahrnehmen. Mit entschlossenen Schritten näherte er sich seinem Kettenbagger, einem ET145 der Marke Wacker Neuson und blickte zum bedeckten Himmel empor. Hoffentlich bleibt’s heute trocken, mit Regen macht die Arbeit wirklich keinen Spass. Ibrahim war stolz darauf ein solches Fahrzeug bedienen zu dürfen, gilt der ET145 doch als Champion in der Königsklasse der Kettenbagger. Der Hersteller verspricht ein optimales Verhältnis von Leistung, Beweglichkeit und Standsicherheit. Womit er auch recht hat, wie Ibrahim meinte. Was für ein Geräusch, dachte sich Ibrahim, als er den Motor des ET145 startete, schöner als alle Musik der Welt, das lässt doch jedes Männerherz höherschlagen. Die ersten Minuten verliefen ganz nach Plan und Ibrahim erfreute sich gerade daran, wie gut er vorwärtskam. Doch dann, wie aus heiterem Himmel, fand seine Tätigkeit ein abruptes Ende.

      «Halt, Stopp, Ibrahim Stopp!» Ibrahims Arbeitskollegen schrien sich buchstäblich die Seele aus ihrem Leib. Sie konnten nicht glauben, was sie da in der Schaufel von Ibrahims Bagger zu sehen bekamen. Knochen, nicht irgendwelche Knochen eines verwesten Tieres, nein das waren, das mussten Menschenknochen sein.

      Was soll denn das? Was soll das Geschrei? Drehen meine Kollegen durch? Ibrahim stoppte den Bagger abrupt und schaute aus seiner Fahrzeugkabine heraus. «Hey Mann, was ist denn los?» So werden wir ja nie fertig. Ibrahim stieg aus seiner Kabine und trat zu seinen Kameraden, die entsetzt, wild gestikulierend und durcheinanderredend auf die Schaufel des Baggers schauten und zeigten. Nun sah auch Ibrahim den Grund des plötzlichen Arbeitsstopps. Er traute seinen Augen nicht und griff mit seinen Händen ungläubig an den Kopf. „Nein, nein, nein.“ Er hatte während seiner Tätigkeit schon einiges in der Schaufel gehabt, was ihn erstaunte und verwunderte, aber das war nicht einfach irgendetwas, das war ein Mensch oder zumindest das, was von ihm übrigblieb. Beim Anblick der Knochen zog es ihm die Magengrube zusammen, er spürte förmlich, wie ihm übel wurde. Doch Schwäche zeigen und Erbrechen, nein das kam für Ibrahim nicht in Frage. Sowas tun nur Frauen, war seine Meinung dazu.

      «Guten Morgen», Petra Neuhaus trat ins Baustellenbüro und sah sich zwei Schnapstrinkenden Männern gegenüber. «Mein Name ist Petra Neuhaus, ich bin von der Kriminalpolizei Kanton Aargau. Hier, mein Ausweis.»

      «Guten Tag, ich bin der Baustellenleiter, Thomas Steiner. Das ist Ibrahim Mansour, er war es, der den Bagger führte und die Knochen ans Tageslicht beförderte.»

      Petras Augen schweiften interessiert durch den Container. Trostlos, also das wäre kein Arbeitsort für mich, ganz bestimmt nicht. Das einzige farbenfrohe an den Wänden des Containers waren die Playboy-Poster, die daran aufgehängt waren. Männer sind doch alle gleich. «Gut, dass Sie heute nicht mehr arbeiten müssen», sagte sie und deutete auf die Schnapsflasche. Denn Alkohol und Arbeit das ging für sie ganz und gar nicht, das war für sie ein absolutes No-Go.

      Thomas Steiner kniff seine Augen zusammen, legte seine Stirn in Falten und erwiderte: «Wie meinen Sie das?»

      «Nun, ich denke mir, auch für Baggerführer gibt’s eine Promillegrenze, nicht wahr? Oder sollte ich mich da täuschen?»

      «Aber das müssen Sie doch verstehen, Frau Neuhaus. Uns steht noch der Schreck in den Knochen. So etwas haben wir wirklich noch nie erlebt. Wir sind nicht so abgebrüht, wie Sie das aufgrund Ihrer Tätigkeit vermutlich sind. Was meinen Sie, wie lange wird es denn dauern, bis wir unsere Arbeit wieder aufnehmen können?» Mit diesen Worten bot Thomas Steiner der Kriminalkommissarin einen wackligen Stuhl an. Wenn die wüsste, wie vielfrüher auf den Baustellen überallgetrunken wurde. Dagegen geht’s heute schon harmlos und gesittet zu und her, eigentlich fast schon etwas langweilig. Heute fliesst kaum mehr Alkohol als in einer Kindertagesstätte.

      «Danke, ich stehe lieber. Nun, das ist schwierig zu sagen, die Forensiker sind jetzt an der Arbeit. Aber zwei, drei Tage wird’s schon dauern, damit müssen Sie leider rechnen.»

      «Zwei, drei Tage? Super! Da wird unser Boss aber keine Freude daran haben. Wir sind sonst schon etwas im Verzug.»

      Gerade in diesem Augenblick war in unmittelbarer Nähe ein kräftiges Donnerwetter zu vernehmen. Die dunklen Wolken über der Baustelle begannen sich kräftig und ausgiebig zu entleeren. Es schien fast so, als wollte Petrus die Erde nach diesem schrecklichen Fund mit Blitz und Donner und viel Regenwasser, wieder reinwaschen. Der Wetterumschwung gefiel Petra ganz und gar nicht, denn sie wusste, dass sich dadurch die Arbeit am Fundort deutlich erschweren würde. Sie schaute zum kleinen Fenster hinaus. Ach Petrus, hättest du nicht noch warten können? Mach mir das Leben doch nicht so schwer.

      Petra wusste nicht weshalb im Zusammenhang mit dem Wetter immer von Petrus die Rede war, das war für sie ein absolutes Rätsel. Und damit steht sie nicht alleine da.

      Im monotheistischen Christentum gibt es prinzipiell nicht mehrere, nach Funktionen unterschiedene Götter, daher also auch keinen Wettergott. Im Volksglauben jedoch wird der Apostel Petrus als verantwortlich für das Wetter angesehen und darum auch gerne als Wettergott bezeichnet. Diese Bezeichnung hat sich vom Volksglauben gelöst und ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Die Zuschreibung rührt vermutlich daher, dass Petrus in mittelalterlichen Darstellungen zuständig ist für das Öffnen und Schliessen der Himmelspforte. «Petrus hat die Himmelsschleusen geöffnet», lautet bisweilen im Volksmund die bildhafte Umschreibung des Regenwetters. Auch als kulturgeschichtlicher Nachfolger des römischen Gottes Janus steht Petrus in enger Verbindung mit Wettererscheinungen.

       2) Mittwoch

      Ein langer anstrengender Arbeitstag, der an Petras Körper zehrte, neigte sich langsam, aber sicher dem verdienten Ende entgegen. Ich bin auch nicht mehr die Jüngste. Vor ein paar Jahren machten mir solche langen Tage viel weniger aus als heute. Sie sass an ihrem Schreibtisch im Büro der aargauischen Kriminalpolizei in Aarau, und freute sich auf einen gemütlichen, erholsamen Feierabend. Sie würde mit Ulrich auf dem Balkon sitzen, ein Glas Wein trinken und den Herbstabend geniessen. Zunächst aber nervte sie eine lästige, wild umherschwirrende Fliege. Was hast du eigentlich für einen Nutzen, du kleines Mistviech? Warum bist du bloss auf dieser Welt? Mit einem Teil der heutigen Tageszeitung versuchte sie die Fliege zu erschlagen, ihrem sowieso nutzlosen Leben, ein Ende zu machen. Die ersten Angriffe missrieten vollends. Aber immerhin schaffte es Petra, dass sich die Fliege davonmachte und nun in einem anderen Teil