Skelett des Grauens. Martin Willi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Willi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301210
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       1) Montag, September, erste Woche

      Wohltuend räkelte sich Petra Neuhaus unter ihrer tiefgrünen Bettdecke und öffnete ihre graublauen Augen, mit denen sie zunächst zwinkernd die Welt erblickte. Ach nein, ist es schon so hell? Muss das denn wirklich sein? Wieso vergehen die freien Stunden immer in Windeseile und warum wollen die langen Arbeitstage oft nicht zum Ende kommen? Schon wieder eine neue Woche, was wird sie mir wohl bringen? Als Kriminalkommissarin musste sie täglich, stündlich, sogar jede Sekunde mit neuen Herausforderungen rechnen. Einen Arbeitstag zu planen war für sie schwierig, denn jederzeit konnte etwas geschehen, das alles was sie sich vorgenommen hatte, über den Haufen warf. Mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand, dessen Fingernagel purpurrot lackiert war, rieb sie ihr rechtes Auge, das wie beinahe jeden Morgen etwas verklebt war. Warum dies so war, wusste sie nicht, sie konnte es sich nicht erklären. Vielleicht weil ich meistens auf der rechten Seite liege, aber auf der linken Seite kann ich nicht schlafen, da stört mich mein Herzschlag, hat sie sich mal feststellend gedacht. Irgendwann hatte sie in einer Fachzeitschrift in einem ärztlichen Wartezimmer gelesen, dass dies davon kommen könnte, dass das Auge in der Nacht nicht ganz geschlossen sei. Blödsinn, das würde ich ja bemerken, wenn mein Auge nicht zu ist, dann ist es doch hell. Immer diese wissenschaftlichen, nicht nachvollziehbaren Erklärungen. Zurzeit war es ihr vollkommen egal. Es gibt Momente, wo sie sich daran störte oder darüber sogar ärgerte. Doch nach einem solch tollen Wochenende, nach Stunden voller Leidenschaft, Hingabe und hemmungsloser Erotik, hatte ihr nicht ganz lupenreines Auge nur wenig Bedeutung, es verkam zu einer winzig kleinen Lappalie im grossen Universum des Lebens. Ihre linke Hand griff unter die Bettdecke neben ihr. Doch sie konnte zu ihrer Verwunderung und besonders zu ihrer Enttäuschung nichts ertasten, die linke Seite des Bettes war bereits verlassen und kalt. «Ulrich? Wo bist du? Hallo?»

      Sie richtete sich auf, setzte sich auf die Bettkante, versuchte ihre angespannten Nackenmuskeln zu lockern und schaute sich in ihrem Schlafzimmer um. Ihre Augen erblickten da so einiges: High-Heels, Weinflasche, Gläser, Netzstrümpfe, Krawatte, Männerhemd… Oh Mann, hier hat wohl eine Bombe eingeschlagen.

      «Eine Bombe Namens Ulrich.» In diesem Augenblick betrat Ulrich das Schlafzimmer bereits angezogen, leider bereits angezogen, wie Petra sich in sehnlicher Erinnerung dachte.

      «Kannst du Gedanken lesen?» Petra stand auf, umarmte und küsste ihn auf die Wange. Sie wusste, dass er es nicht gerne hatte, wenn sie ihn am Morgen auf den Mund küsste, bevor sie ihre Zähne geputzt hatte. Und sie hielt sich daran, sie wollte ihn nicht verärgern und vor allem wollte sie ihn nicht wieder verlieren. Sie waren schon mal ganze acht Jahre lang getrennt, seit sie wieder zusammen waren, so fühlte sie sich glücklich. Wenn es sowas wie Glück überhaupt gibt, auf alle Fälle war sie zufrieden mit sich und der Welt. Das ist mehr als viele andere Menschen haben.

      «Du bist sowas von heikel», sagte Petra unlängst zu Ulrich, als dieser wieder mal ihren Morgenkuss abwehrte. «Heikel, und manchmal leider etwas zu perfekt.»

      Ulrich löste sich schnell aus der Umarmung und meinte betreffend der Bombe: «Gedanken lesen kann ich noch nicht, aber ich habe doch deinen Blick gesehen. Deine Augen sagen oft mehr als tausend Worte. Aber jetzt muss ich leider los mein Schatz.»

      «Trinken wir nicht noch einen Kaffee zusammen?», erwiderte Petra sichtlich enttäuscht. Sie wollte nicht so abrupt in den tristen Alltag starten, dazu hatte sie nicht mal ein halbes Prozent Lust. Und wer räumt hier auf?, dachte sie als sie umherblickte, natürlich wieder mal ich. Aber eigentlich ist es auch okay so, immerhin ist es ja meine Wohnung.

      Doch Ulrich hatte seinen Morgenkaffee bereits getrunken und war schon auf dem Sprung: «Die Pflicht des Lebens ruft. Und du solltest dich auch beeilen.»

      «Wieso, gibt’s irgendwo einen Toten oder sonst ein schlimmes Verbrechen, das darauf wartet von mir aufgedeckt zu werden?» Sie trat zum Fenster, das sie weit öffnete und mit einem tiefen Atemzug schaute sie hinaus in den Morgenhimmel, der sich ihr bedeckt und grau präsentierte. Es schien ihr, als stünden die dunklen Wolken am Himmel kurz davor, sich zu entladen und die Erde mit einem starken Regenschauer zu erfrischen. Was eigentlich auch gut ist, wie sie zu sich selbst meinte, hatte es doch schon seit Wochen nicht mehr so richtig geregnet. Tja, die Klimaerwärmung. Die ist ja in aller Munde und längst zur Tatsache geworden. Auch wenn es Politiker wie Donald Trump immer noch nicht wahrhaben wollen. Vielleicht wird Europa ja irgendwann zu einer Wüste, aber das erleben Ulrich und ich nicht mehr. Sie legte ihre rechte Hand auf ihre Stirn und ihr Blick schweifte in die Ferne «Kein Verbrechen in Sicht, Ulrich, ich kann nichts entdecken. So sehr ich mich anstrenge, nichts zu sehen.»

      Ulrich, der eigentlich schon gehen wollte, trat plötzlich von hinten an sie heran und seine Hände streichelten zunächst ihren straffen Po, der ihn oft beinahe zum Wahnsinn trieb, und dann ihre Brüste. Er dachte zurück an den gestrigen Abend, an die vergangene Nacht, und seine Lüsternheit stieg in ihm auf. Seine kräftigen, aber dennoch zarten und weichen Hände glitten unter Petras türkisfarbenes T-Shirt und zärtlich umkreiste er ihre Busen, was ihre Brustwarzen in Erregung versetzte. «Wir könnten auch sofort wieder ins Bett», hörte er Petra zärtlich flüstern, da sie seine Erregung nur zu deutlich spüren konnte.

      Schon wollte Ulrich seiner Geliebten nachgeben, doch in diesem Moment klingelte das Mobiltelefon von Petra, was so früh am Morgen in der Regel nichts Gutes verhiess. «Immer im dümmsten Moment, irgendwann bring ich das Ding noch um», ärgerte sie sich, schaute auf das Display und nahm widerwillig den Anruf entgegen. «Erwin, guten Morgen, was gibt’s denn? Ich hoffe, du hast einen guten Grund mich so früh anzurufen.»

      «Guten Morgen Petra, hast du schon gefrühstückt?» Erwin Leubin, der langjährige Arbeitskollege von Petra, sprach langsam und auch etwas bedrückt. Als Ermittlerduo Neuhaus/Leubin hatten sie schon viele mysteriöse Kriminalfälle aufgedeckt und Erwin wusste, der nächste Fall ist bereits da.

      «Nein.»

      «Dann nimm noch was Kräftiges zu dir. Wir haben einen Toten, das heisst einige Teile davon.»

      Nachdem Erwin ihr erklärt hatte, wo sie sich treffen würden, legte Petra ihr Mobiltelefon wortlos auf das Sideboard, das sich im Wohnzimmer neben dem Fenster befand. Super, die Woche fängt ja schon mal gut an. Sie blickte in Ulrichs braune schmale Augen: «Sorry, ich muss los!»

      «Tja, also doch, ich habe es dir ja gesagt, die Pflicht des Lebens ruft auch nach dir.»

      Um 5:30 Uhr in der Früh klingelte bei Ibrahim Mansour der Wecker, es war ein ganz gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand, den er sich vor ein paar Jahren in einem Discountladen für weniger als 20 Franken erworben hatte. Er legte keinen Wert auf Luxusartikel, lieber versuchte er sich einen Sparbatzen anzulegen. Der knapp dreissigjährige Bauarbeiter stand innert Sekunden auf, er musste pünktlich zur Arbeit erscheinen. Aber das war für den kräftigen braungebrannten Ibrahim, dessen Grossvater im Jahre 1947 als Flüchtling zunächst nach Deutschland und dann drei Jahre später in die Schweiz kam, kein Problem. «Pünktlichkeit, das ist fünf Minuten vor dem Termin zu erscheinen», sagte ihm einst einer seiner Lehrer, ein gewisser Samuel Wassmer, der aus dem bernischen Emmental stammte. Ibrahim hatte Lehrer Wassmer nicht nur der Pünktlichkeit wegen in guter Erinnerung behalten. Zurückblickend auf seine Schulzeit dachte er oft, dass er von all seinen Lehrkräften am meisten von Samuel Wassmer gelernt und profitiert hatte.

      Trotz seiner arabischen Wurzeln fühlte sich Ibrahim durch und durch als Schweizer, nicht als Eidgenosse. Nein, das denn doch nicht, denn Eidgenossen, das waren für ihn die Männer im Mittelalter, die als Söldner mit Morgensternen, Hellebarden und Schwerter in die fernen Länder reisten und für fremde Herrscher in den Krieg zogen. Ein für ihn mehr als sinnloses Unterfangen, wieso soll man sein Leben für ein fremdes Land riskieren? Das konnte er sich beim besten Willen nicht erklären, das war für ihn schlicht eine Nummer zu hoch. Er konnte auch nicht verstehen, weshalb sich Europäer und darunter auch Schweizer immer wieder der salafistischen Miliz IS anschlossen. Ibrahim huschte kurz unter die Dusche und trank dann eine Tasse Chai, einen Tee mit sehr viel Zucker und den Gewürzen Kardamom, Zimt und Nelken. Dazu ass er ein Stück Sauerteigbrot und eine fast noch grüne Banane, dann war er bereit für seinen Arbeitstag.

      Fünf