Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jurjen Albert Zeilstra
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374063789
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Aspekte? Ereignisse, die von den Zeitgenossen als sehr wichtig angesehen wurden, müssen das viele Jahrzehnte später nicht mehr unbedingt für den Biografen sein. Und ebenso gilt das Gegenteil. Damals offenbar selbstverständliche Dinge, die man nicht nötig fand, festzuhalten, können heute als bemerkenswert angesehen werden. In dieser Biografie wurden die Themen, die die Gliederung der Kapitel bestimmen, auf der Grundlage der Interpretation des Biografen, des verfügbaren Materials und der lebensgeschichtlichen Zäsuren Visser ’t Hoofts ausgewählt. Die Themen leiten sich also direkt aus den Quellen ab, die sich auf das Leben von Visser ’t Hooft beziehen. Sie wurden nicht aus der Beschreibung dieses Lebens oder den vorher entwickelten Ideen des Verfassers gewonnen.

      Ohne eine gewisse Affinität und Faszination für sein Fach kann kein Autor eine Biografie schreiben. Die beste Position, um einen gut lesbaren, spannenden und wissenschaftlich verantwortlichen Text über ein menschliches Leben zu schreiben, ist die zwischen Distanz und Nähe. Visser ’t Hooft fasziniert, weil er es verstand, selbstbewusst und gut informiert in den Grenzbereich von Kirche und Gesellschaft vorzudringen.

      Der Verfasser dieser Biographie hat Visser ’t Hooft nie lebend getroffen. Das ist auf der einen Seite ein Nachteil und macht bescheiden, denn in der persönlichen Begegnung passiert etwas, das in keiner Weise nachgeahmt werden kann. Es ist auf der anderen Seite aber auch ein Vorteil. Denn so ergibt sich eine natürliche Distanz; der Verfasser fühlt sich frei und nicht an eine pietätvolle Haltung gebunden. Der Autor arbeitete vor allem als Historiker, aber er wollte auch sein Fachwissen als Theologe in einem bidisziplinären Ansatz einsetzen, um zu verstehen, worum es im Leben von Visser ’t Hooft ging. Dieses Buch ist jedoch als eine kritische und historisch-wissenschaftlich verantwortete Studie verfasst. Theologie ist ein wichtiger Teil dieser Geschichte und deshalb auch aus historischer Sicht ein inhaltlich ausgearbeitetes, kritisch zu betrachtendes Untersuchungsobjekt.

       Kapitel 1

       Die Welt öffnet sich. 1900–1924

       1.1 Einleitung

      Wim Visser ’t Hooft verbrachte seine Jugend in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Haarlem, einer mittelalterlichen Handelsstadt im Nordwesten der Niederlande, nicht weit entfernt von Amsterdam. Er wuchs in einer vornehmen, von einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl geprägten Familie auf, die zur sozialen Oberschicht der Stadt zählte. Sie gehörte den Remonstranten, einer freisinnigen protestantischen Kirche, an. Für die damalige Zeit waren seine Eltern sehr weltoffen und gaben ihren drei Söhnen viel Freiheit. Dennoch erinnerte sich der erwachsene Visser ’t Hooft später daran, dass er seine Jugend in einer sehr ruhigen Stadt verlebt hatte; in einer sicheren »Blase«, fernab der Welt. Diese Wahrnehmung kam wahrscheinlich hauptsächlich daher, dass die Auslandsreisen, die die Familie noch vor den Kriegsjahren unternehmen konnte, ab dem Sommer 1914 plötzlich unmöglich wurden: »Wir steckten in unseren Grenzen fest, aber wir waren auch geistig vom Rest der Welt abgeschnitten.«1 Vor diesem Hintergrund spielten für Wim die Ferien, die er in den Jugendcamps der Niederländischen Christlichen Studentenvereinigung verbrachte, eine wichtige Rolle. 1918, mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, öffnete sich für ihn die Welt; schnell kamen neue Herausforderungen auf ihn zu. Das Kapitel 1 widmet sich den Werten, die er mitbrachte, und zeigt, wie er sie persönlich entwickelte (1.2). In seiner Schulzeit, die ohne größere Zwischenfälle verlief, las Visser ’t Hooft viel (1.3). Seine persönliche Entwicklung in dieser Zeit hatte ein überraschendes Ergebnis. Er entschied sich für Theologie und genoss einige Jahre lang das Leben als Student. Welche Rolle spielte sein Glaube an Gott und welche Lebensaufgabe formulierte er daraus für sich? (1.4) 1924 heiratete er Jetty, eine junge Frau aus Den Haag. Was bedeutete sie in dieser Zeit für ihn? (1.5)

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      Wim Visser ’t Hooft, ca. 1916

       1.2 Eine Familie mit Status und Traditionen

      Willem Visser ’t Hooft wuchs in einem aristokratischen Umfeld auf. Seine Eltern, Hendrik Philip ’t Hooft und Jacoba Clasina Lieftinck, waren liberale Menschen mit einem breiten kulturellen Interesse. Ihr Selbstbewusstsein ging mit einem gewissen natürlichen Sinn für Stil einher, wozu auch gehörte, dass man weder seinen Rang zur Schau stellte, noch damit verbundene Positionen öffentlich machte.

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      Vater Hendrik Philip (Hans) Visser ’t Hooft, 1866–1930

      Tatsächlich waren die ’t Hoofts keine Adligen, sondern vornehme Patrizier; »Regenten«, die seit Generationen scheinbar selbstverständlich Führungspositionen in der niederländischen Gesellschaft innehatten. So gehörte es etwa auch dazu, dass die aufwachsenden Jungen lernten, aus einem Kreis herauszutreten und das Wort zu ergreifen. Zugleich ging es zu Hause nicht sehr förmlich zu. Die Söhne Frans, Wim und Hans, die sich fast ständig gegenseitig herausforderten, bildeten ein temperamentvolles Trio. Frans war der älteste. Er entwickelte zunächst ein wissenschaftliches, später dann eher ein geschäftliches Interesse. Der jüngste Sohn, Hans, war der Sportler unter den Brüdern und begann, Medizin zu studieren. Wim interessierte sich besonders für die Welt der Literatur. Als kleines Kind las er viel. Aber in seiner Schulzeit ahnte noch niemand, dass er sich eines Tages für die Theologie entscheiden würde.

      Wim liebte wie sein Vater die Familientraditionen und entwickelte bereits in jungen Jahren ein historisches Bewusstsein. Er interessierte sich besonders für seine Herkunft. In der Familie wurden zahlreiche Porträts, Gegenstände und Tagebücher aufbewahrt, die von verschiedenen Vorfahren und deren Landhäusern stammten. Darüber wurden Geschichten und Anekdoten erzählt, die ihn faszinierten. Später fand es Visser ’t Hooft herrlich, selber die alten Familiengeschichten seinen Kindern und Enkeln zu erzählen, wobei er gerne Beziehungen zur niederländischen und internationalen Geschichte herstellte. Nach seiner Pensionierung 1966 beschäftigte er sich intensiv mit der eigenen Familiengeschichte.2 Er fand es interessant, dass der älteste Vorfahre, zu dem es noch Informationen gab, ein gewisser Iman ’t Hooft gewesen war. Er wurde 1584 geboren; in dem Jahr, in dem Willem van Oranje ermordet wurde. Dieser Iman ’t Hooft war Seilmacher in St. Maartensdijk. Seine Nachkommen in Dordrecht entwickelten sich zu wohlhabenden Fabrikanten in der Seilindustrie.3 1886 musste das Familienunternehmen schließen, weil sich zu dieser Zeit die Schifffahrt vom Seil auf das Stahlkabel verlagerte. Die Männer der Visser-Familie waren in der Schifffahrt tätig. Visser ’t Hooft war stolz darauf, dass eine Reihe seiner Vorfahren mit der Niederländischen Vereinigten Ostindien-Kompanie (VOC) zusammengearbeitet hatten.

      Als Wim und seine Brüder Kinder waren, war das Bellevue-Haus in Dordrecht, in dem damals zwei unverheiratete Tanten Visser wohnten, einer der wichtigsten Treffpunkte für die Familie.4 Es lag wunderschön in einem Park an einem Teich. Wim vergaß nie, wie seine Tante Marie, eine sehr energische Persönlichkeit, aus dem stattlichen Bellevue einen angenehmen Treffpunkt für die ganze Familie zu machen wusste. Die Sommerferien dort waren für Wim und seine Brüder in ihrer Kindheit der Höhepunkt des Jahres. Es wurden Bootsfahrten und Fahrten mit der Pferdekutsche zu den Landgütern anderer wohlhabender Familienmitglieder unternommen. Wim war deshalb sehr verärgert, als nach dem Tod seiner Tante Marie 1913 das Bellevue-Haus verkauft und abgerissen werden musste. Damit die Erinnerung an diese Tante und ihr Name für die Familie nicht verloren gingen, beschloss Vater Hooft 1917, ihren Namen »Visser« an den Familiennamen auf der Grundlage eines Königlichen Erlasses hinzuzufügen. So entstand der Name Visser ’t Hooft.5

      Die Familie gehörte der evangelischen Konfessionsrichtung der Remonstranten an, aber noch nicht sehr lange. Die Wahl für die