Der Paradigmenwechsel von der biotechnischen zur biopsychosozialen Medizin führte auch zu einer neuen Definition der Kommunikationsbasis zwischen ÄrztInnen und PatientInnen (vgl. Kaba/Sooriakumaran 2007, Koerfer/Albus 2015: 118). So hat sich die Medizin in den letzten Jahrzehnten vom paternalistischen Modell verabschiedet und das partizipative Modell, das die/der PatientIn als „patient-as-person“ (Kaba/Sooriakumaran 2007: 61) betrachtet, hat sich als Maßstab etabliert.1 Im partizipativen Modell wird zu PatientInnen sowohl im Rahmen der Anamneseerhebung als auch bei der Exploration der subjektiven Einstellungen der PatientInnen gegenüber den möglichen Behandlungen ein narrativer Zugang gesucht (vgl. Koerfer/Albus 2015: 118). Ein solcher Zugang kann nicht mehr mithilfe stark interrogativer Interviews gefunden werden, „sondern sie müssen oft erst im Dialog […] aktiv entwickelt und gegebenenfalls je nach Krankheitsverlauf gesprächsweise überprüft und korrigiert werden“ (Koerfer/Albus 2015: 118). In diesem Zusammenhang heben Elwyn et al. (2012: 1364ff.) folgende drei Schritte, die im Rahmen eines partizipativen Modells berücksichtigt werden sollten, hervor: choice talk, option talk und decision talk. Im ersten Schritt sollen PatientInnen über alle verfügbaren Behandlungsoptionen informiert werden; im zweiten Schritt sollen PatientInnen weiterführende Informationen zu den Optionen erhalten. Im letzten Schritt sollen PatientInnen bei der Entscheidung über die beste Option unterstützt werden.
2.1.2 Institutionelle Kommunikation und Struktur der medizinischen Gespräche
Als Form der institutionellen Kommunikation findet die Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen in einem kommunikativen Rahmen statt, in dem „bis ins Detail festgelegt [ist], wer was wann und auf welche Weise tut oder unterlässt“ (Kadrić 2009: 149). Das Verhältnis zwischen den Gesprächsteilnehmenden in der institutionellen Kommunikation weist immer eine gewisse Asymmetrie auf. Im Fall der medizinischen Kommunikation ist dies auf einen einfachen Grund zurückzuführen: Während ÄrztInnen „gesund und wissend“ sind, sind PatientInnen „krank und unwissend“ (vgl. Bechmann 2014: 3). Die VertreterInnen der Institution beginnen die Konversation und entscheiden deren Thema und Struktur, während die restlichen Gesprächsteilnehmenden hauptsächlich Fragen zu beantworten haben (vgl. Kadrić 2011: 57). Trotz des partizipativen Modells besitzen ÄrztInnen laut Bechmann (2014: 183) „Vorrechte für interaktive kommunikative Handlungen“. Die Kommunikation mit den Behandelnden ist also unidirektional (vgl. Bechmann 2014: 130), da sie hauptsächlich ärztInnengesteuert ist. Die Richtung der Fragen und Antworten bleibt zumeist dieselbe: Die/der ÄrztIn fragt, die/der PatientIn antwortet.
Laut Bührig und Meyer (2009: 191) übt jede Institution aufgrund ihrer individuellen Abläufe einen starken Einfluss auf die medizinische Kommunikation aus. Werden PatientInnen im Krankenhaus von FachärztInnen unterschiedlicher Abteilungen untersucht, müssen mehrere Anamnesen durchgeführt werden, denn jede/jeder ÄrztIn möchte bestimmte Symptome abklären, die möglicherweise nicht im Fokus vorheriger Untersuchungen standen (vgl. Bührig/Meyer 2009: 191). Abb. 2 veranschaulicht den institutionellen Handlungsraum im Krankenhaus.
Handlungsraum in der Institution Krankenhaus (Meyer 2004: 52)
In diesem Handlungsraum befinden sich verschiedene Pragmeme, die sprachliche und mentale Aktivitäten beinhalten und „zusammengefasst als funktionale Einheiten eines gesamten Handlungsablaufs, in die Handlungslinien einzelner Aktanten und in unterschiedliche Sphären eingebettet sind“ (Bührig/Durlanik/Meyer 2000: 15). Mehrere Pragmeme zusammen bilden Hyperpragmeme. Der Aufenthalt beginnt in Anlehnung an Abb. 2 mit der Aufnahme.1 Daran sind in der Regel keine ÄrztInnen, sondern die Verwaltung und das Pflegepersonal beteiligt. In diesem ersten Pragmem kann medizinische Kommunikation im Rahmen der Erledigung von Aufnahmeformalitäten, Zahlungen oder deren Überprüfungen (im Fall von privat versicherten PatientInnen) und der Begleitung in die Station oder Ambulanz erfolgen. Erst nach der Aufnahme findet die Anamnese statt, bei der die PatientInnen mit ÄrztInnen interagieren und die jeweilige Krankengeschichte erzählen. Es folgt der Verdacht, eine Art Prädiagnose der behandelnden ÄrztInnen, die sich in dieser Phase unter Umständen auch mit ihren KollegInnen konsultieren. Während der darauffolgenden Untersuchung kann das Pflegepersonal den ÄrztInnen assistieren. Gewisse Untersuchungen bedingen per Gesetz ein Aufklärungsgespräch, in dem über Risiken, Methoden und Alternativen informiert werden soll (vgl. Bührig/Meyer 2015: 307); zuweilen muss die Untersuchung wiederholt oder um weitere Abklärungen ergänzt werden. Danach wird ein Befund erstellt, an dem wiederum verschiedene ÄrztInnen (zum Beispiel RadiologInnen) mitwirken können (vgl. Bührig/Durlanik/Meyer 2000: 15ff.). Während der Diagnose – dem Ergebnis aus Verdacht, Untersuchung und Befund – werden die PatientInnen wieder stärker kommunikativ einbezogen. Der Diagnose folgt der Therapievorschlag, der zur Entscheidungsfindung eines Aufklärungsgesprächs bedarf. An der anschließenden Therapie sind neben den PatientInnen und ÄrztInnen auch das Pflegepersonal und etwaiges zusätzliches medizinisches Personal wie DiätassistentInnen und PhysiotherapeutInnen beteiligt. Vor der Entlassung, die inhaltlich ähnlich wie die Aufnahme verläuft, wird meist eine Erfolgskontrolle durchgeführt, in der ebenso das Pflegepersonal involviert sein kann (vgl. Bührig/Durlanik/Meyer 2000: 18ff.). Die ärztliche Praxis als medizinische Institution verfügt in der Regel nicht über dieselbe Komplexität wie die Institution Krankenhaus und weist aus diesem Grund nur wenige Pragmeme auf (vgl. Bührig/Meyer 2009: 181ff.). Dennoch kann es auch dort zu einer Kombination mehrerer Pragmeme kommen, falls vor oder nach dem Besuch der Praxis andere SpezialistInnen oder medizinische Institutionen konsultiert werden, die den institutionellen Handlungsraum erweitern.
Die Struktur eines medizinischen Gesprächs folgt meist einem bestimmten institutionalisierten Kommunikationsmodell. Die sogenannten Calgary-Cambridge guides (vgl. vgl. Kurtz et al. 2003: 806, Bechmann 2014: 196ff.) stellen ein für ÄrztInnen entwickeltes Kommunikationsmodell dar, welches mittlerweile als internationaler Maßstab für die evidenzbasierte ärztliche Gesprächsführung gilt. Die Richtlinien beschreiben mehr als 70 Kommunikationsprozesse und sollen den ÄrztInnen insbesondere während der klinischen Ausbildung zeigen, wie die ärztliche Gesprächsführung unter Berücksichtigung der partizipativen Entscheidungsfindung