In einem Nachfolgeexperiment wurde beiden Gruppen die Möglichkeit gegeben, mit einem Sprung über eine Barriere den Schocks zu entkommen und in einen Käfigteil zu springen, der nicht unter Strom stand. Die Gruppe, die im Vorexperiment den Schocks ausweichen konnte, lernte schnell, sich mit einem Sprung über die Barriere in Sicherheit zu bringen. Die andere Gruppe, die den Schocks hilflos ausgeliefert gewesen war, lernte nicht einmal dann, wenn man sie in den stromfreien Käfigteil zog, dass es ihr möglich war, ihre Situation zu beeinflussen. Sie blieb vielmehr winselnd und regungslos sitzen und ließ die Schocks über sich ergehen.
Wie sich in weiteren Untersuchungen zeigte, führen Hilflosigkeitserfahrungen bei Menschen ebenso zu Reaktionen und Verhaltensmustern, die man als depressionsfördernd bezeichnen kann. Studenten wurden unlösbare Aufgaben gestellt, was dazu führte, dass sie in Nachfolgeuntersuchungen bei der Lösung von lösbaren Aufgaben deutlich schlechter abschnitten als Studenten, die diese Hilflosigkeitserfahrung nicht gemacht hatten.
Kommentar: Hilflosigkeitserfahrungen spielen bei depressiven Patienten eine entscheidende Rolle. Je globaler (»Nichts bekomme ich hin, alles geht schief!«) und stabiler (»Nichts kann sich ändern, es kommt immer so!«) diese interpretiert werden, desto stärker die subjektiv erlebte Hilflosigkeit der Patienten, desto ausgeprägter die depressive Symptomatik.
Kognitiver Ansatz
Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) betont, dass depressive Personen zu einer negativen Betrachtung ihrer selbst, ihrer Umgebung und der Zukunft neigen (Beck 2004). Diese fehlangepassten Kognitionen haben ihren Hintergrund in Kindheitserfahrungen, sind weitgehend unbewusst und entwickeln sich vor allem in Stresssituationen. Sie beeinflussen die Wahrnehmung in der Weise, dass Depressionen verstärkt werden. Der erweiterte kognitive Ansatz unterscheidet zwischen automatischen Gedanken, darunterliegenden Überzeugungen und Schemata oder sogenannten core beliefs.
Beck (2004) beschreibt eine kognitive Triade, bestehend aus der Neigung, sich selbst in einer defizitären Weise zu sehen, die Welt als feindlich und destruktiv wahrzunehmen und die Zukunft als unveränderbar und negativ zu betrachten. Für die meisten der bei Depressiven auftretenden Probleme werden diese Kognitionen als grundlegend wahrgenommen.
Kommentar: Dass Kindheitserfahrungen für die Entstehung von Depressionen relevant sind, lässt sich in vielen Fällen verifizieren. Dass diese Erfahrungen die Wahrnehmung, die Interpretationen und Kognitionen beeinflussen, ist ebenso unumstritten. Die aus diesem Zusammenhang abgeleitete Schlussfolgerung der kognitiven Verhaltenstherapie, dass man die Depression über ein Modifizieren der Kognitionen verändern könne, ist in der Praxis wenig verifizierbar. Innerhalb der Hirnforschung wird inzwischen infrage gestellt, ob sich Emotionen überhaupt über Kognitionen verändern lassen. Der bekannte und renommierte Hirnforscher Prof. Gerhard Roth behauptet in seinem Buch Wie das Gehirn die Seele macht, dass Kognitionen Gefühle nicht beeinflussen können. »Die Grundannahme der Kognitiven Verhaltenstherapie ist falsch« (Roth 2015).
Nun weiß man aus der Praxis, dass es manchmal möglich ist, über eine Veränderung der Kognitionen einen Einfluss auf die Emotionen auszuüben. Allerdings meist nur dann, wenn sich über eine Veränderung der Kognition auch eine neue Vorstellung entwickelt. Der gut gemeinte Versuch, einen unter Flugangst leidenden Patienten zu beruhigen: »Bei Turbulenzen brauchen Sie doch keine Angst zu haben«, funktioniert meist wenig. Die Information eines Zahnarztes an einen zahnbehandlungsphobischen Patienten: »Das kann jetzt gar nicht so weh tun«, bewirkt in der Regel keine positive Veränderung. Vielmehr fördern die Worte »Angst« und »Schmerz« die negativen Vorstellungen, die den Ängsten und der erhöhten Schmerzempfindlichkeit zugrunde liegen.
Interpersonale Theorie
Dieses Konzept fokussiert auf die Beziehungserfahrungen der depressiven Patienten. Depressionen entstehen aufgrund von bestimmten Beziehungsmustern, die meist in der Kindheit erworben wurden. Wenn Kinder ihre Bezugspersonen nicht als verlässlich und fürsorglich empfinden, entstehen Ängste dahingehend, dass sich die Bezugsperson zurückzieht und einen verlässt. Kinder mit solchen Beziehungserfahrungen haben das Gefühl, Beziehungen nur dann erhalten zu können, wenn sie den Erwartungen ihrer Umgebung gerecht werden (Lineares u. Campo 2003). Dabei vernachlässigen sie die eigenen Bedürfnisse und können diese irgendwann nicht mehr wahrnehmen. Diese in der Kindheit erworbenen Beziehungsmuster werden auf spätere Beziehungspartner übertragen. Es bestehen ein generelles Gefühl der Wertlosigkeit und eine Angst, nicht in Ordnung zu sein und verlassen zu werden.
Groll und Aggressionen werden aus Angst vor Ablehnung und negativen Sanktionen nur indirekt und in sozial akzeptierter Weise ausgelebt (Meiss 2009). Die depressive Person kommuniziert nicht: »Ich will nicht!«, sondern bestenfalls: »Ich kann nicht!«
Kommentar: Die beschriebenen problematischen Beziehungserfahrungen spielen eine erhebliche Rolle bei vielen depressiven Patienten. Dass es notwendig ist, in bestimmten Fällen die Lebenspartner oder Bezugspersonen in den therapeutischen Prozess miteinzubeziehen, wird heute kaum noch bestritten. Gleichwohl sind die Beziehungserfahrungen nur ein entscheidender Faktor unter anderen.
Gratifikationskrise – emotionale Minusgeschäfte
Dieses Konzept bezieht sich auf ein ökonomisches Modell der Verrechnung von Einsatz und Ertrag und behauptet, dass Depressionen dann entstehen, wenn ein grobes Missverhältnis zwischen dem Einsatz, den man in eine Tätigkeit oder eine Beziehung investiert hat, und dem Ertrag, den man aus dieser Tätigkeit oder Beziehung zieht, besteht (Meiss 2009; Siegrist 2007). Depressive Menschen haben ihre Erfahrung so interpretiert, dass sie viel investiert haben, aber unverhältnismäßig wenig von diesen Investitionen profitieren. Es besteht wenig Hoffnung, dass sich dies in absehbarer Zukunft ändert, sowie ein Mangel an adäquaten Strategien, um dies zu ändern. Die Depression steht in Zusammenhang mit einer unbewussten Weigerung, in weitere Tätigkeiten und Beziehungen zu investieren, und verhindert weitere Minusgeschäfte. Dieser Ansatz gibt der Depression einen Sinn oder eine Funktion. Die Depression hält die Person davon ab, weitere Energie in etwas zu investieren, was keine Resultate bringt (Meiss 2009) und hilft, zukünftige Enttäuschungen und weitere Minusgeschäfte zu vermeiden.
Kommentar: Dieses theoretische Konzept ist mit anderen Konzepten, wie dem der erlernten Hilflosigkeit, der fehlenden Verstärker, mit psychodynamischen Ansätzen sowie mit der interpersonalen Theorie und den kognitiven Theorien kompatibel. Es liefert eine auf biologischen Grundüberlegungen basierende Theorie der Depression. Mit dieser lassen sich die Entwicklung und die Sinnhaftigkeit einer Depression und eines Burnouts beschreiben. Dieses Konzept soll im nächsten Kapitel genauer dargestellt werden.
Einschätzung der verschiedenen theoretischen Modelle
Die verschiedenen Theorien und Modelle beschreiben unterschiedliche Aspekte depressiver Reaktionen und sind durchaus miteinander vereinbar. Insbesondere das Seligman-Modell der erlernten Hilflosigkeit bietet eine Erklärung für die Entstehung von Depressionen. Auch in diesem Modell wird darauf hingewiesen, dass nicht die Hilflosigkeitserfahrung an sich, sondern vor allem ihre Bewertung und Verarbeitung eine entscheidende Rolle spielt. Werden Hilflosigkeitserfahrungen als stabil und global gewertet, ist die depressive Reaktion am ausgeprägtesten. Diese Interpretationen stehen in Bezug zu den Vorerfahrungen des betroffenen Individuums.
Im Folgenden soll eine Theorie der Depression und des Burnouts dargestellt werden, die die verschiedenen schon vorhandenen Theorien und Modelle integriert