»Was ist da?«, fragte Jeanne.
»Das Böse«, sagte er, und es wurde still im Raum. Selbst das Feuer schien aufzuhören zu knistern.
Jeanne trat zum Fenster und tat, was er gesagt hatte. Sie ließ ihren Blick über das freundliche Dorf wandern. Es dauerte eine Weile, aber dann entdeckte sie über den Lichtern von Three Pines die Stelle, die schwärzer als die Nacht war.
»Das alte Hadley-Haus«, flüsterte Madeleine.
Jeanne wandte sich wieder dem Kreis zu, der gar keinen gemütlichen Eindruck mehr machte, alle saßen auf einmal angespannt und wachsam da. Myrna nahm ihr Glas Scotch und nippte daran.
»Was meinen Sie mit dem Bösen?«, fragte Jeanne Monsieur Béliveau. »Das ist eine schwere Anschuldigung, egal ob es einen Menschen oder einen Ort betrifft.«
»Dort oben geschehen schlimme Dinge«, sagte er schlicht und blickte prüfend in die Runde, ob ihm jemand widersprach.
»Er hat recht«, sagte Gabri, nahm Oliviers Hand und wandte sich an Clara und Peter. »Soll ich es erzählen?«
Clara sah zu Peter, der mit den Achseln zuckte. Das alte Hadley-Haus war mittlerweile verwaist. Seit Monaten stand es leer. Aber Peter wusste, dass es nicht völlig verwaist war. Zum einen hatte er einen Teil von sich selbst dort gelassen. Glücklicherweise keine Hand und auch nicht seine Nase oder einen Fuß. Nichts Greifbares, dafür etwas, das nach einem anderen Maß Substanz und Gewicht hatte. Er hatte dort seine Hoffnung gelassen und sein Vertrauen. Und auch seinen Glauben. Das bisschen, das er gehabt hatte. Dort oben.
Peter Morrow wusste, dass das alte Hadley-Haus verhext war. Es stahl Dinge. Auch Menschenleben. Und Freunde. Seelen und Glauben. Es hatte ihm seinen besten Freund gestohlen, Ben Hadley. Und das Einzige, was diese Monstrosität auf dem Hügel zurückgab, war Kummer.
Jeanne Chauvet kehrte zum Feuer zurück und zog ihren Stuhl näher zu ihnen heran, sodass sie schließlich mit ihnen im Kreis saß. Sie beugte sich vor, die Ellbogen auf die mageren Knie gestützt, die Augen schienen Clara auf einmal mehr Farbe zu haben als den ganzen Abend über.
Langsam drehten sich die Freunde zu Clara, die tief Luft holte. Dieses Haus verfolgte sie seit dem Tag vor zwanzig Jahren, als sie, frisch verheiratet mit Peter, nach Three Pines gekommen war. Es hatte sie verfolgt und beinahe umgebracht.
»In diesem Haus haben ein Mord und eine Entführung stattgefunden. Und ein versuchter Mord. Und es haben dort Mörder gelebt.« Clara war überrascht, wie merkwürdig fern sich das anhörte und anfühlte.
Jeanne nickte und drehte ihr Gesicht zu der langsam ersterbenden Glut im Kamin.
»Gleichgewicht«, sagte sie schließlich. »Jetzt begreife ich.« Sie schien plötzlich zu wachsen, ihre Schultern strafften sich, es war, als durchliefe sie eine Metamorphose. »Ich habe es seit der ersten Minute in Three Pines gespürt. Und ich spüre es heute Abend genau hier und genau jetzt.«
Monsieur Béliveau nahm Madeleines Hand. Peter und Clara beugten sich vor. Olivier, Gabri und Myrna rückten näher zusammen. Clara schloss die Augen und versuchte, das Böse zu spüren, das Jeanne fühlte. Aber sie spürte nur –
»Frieden.« Jeanne lächelte schwach. »Von der ersten Minute an spürte ich diese Warmherzigkeit hier. Noch bevor ich mein Zimmer in der Pension bezog, ging ich zu der kleinen Kirche – ich glaube, sie heißt St. Thomas – und setzte mich auf eine Bank. Ich spürte Frieden und Zufriedenheit. Dieses Dorf hat eine alte Seele. Ich las die Tafeln an der Kirchenmauer und betrachtete die bunten Fenster. Dieses Dorf hat Verluste erlitten, Menschen, die weit vor ihrer Zeit gestorben sind, Unfälle, Krieg, Krankheit. Auch Three Pines bleibt davon nicht verschont. Aber Sie scheinen es als Teil des Lebens zu akzeptieren und nicht daran zu verzweifeln. Die Mörder, von denen Sie sprachen, kannten Sie diese Leute?«
Alle nickten.
»Und doch haben diese schrecklichen Ereignisse Sie offenbar nicht bitter oder hart werden lassen. Ganz im Gegenteil. Sie machen einen glücklichen und zufriedenen Eindruck. Wissen Sie, woher das kommt?«
Sie starrten ins Feuer, in ihre Gläser, auf den Boden. Wie erklärte man Glück? Zufriedenheit?
»Wir lassen los«, sagte Myrna schließlich.
»Sie lassen los«, Jeanne nickte. »Nur«, sie sprach jetzt ganz leise und sah Myrna direkt in die Augen, nicht herausfordernd, eher fragend, fast bittend, dass Myrna sie verstehen möge, »wohin wendet es sich?«
»Wohin wendet sich was?«, fragte Gabri, nachdem sie alle einige Zeit geschwiegen hatten.
Myrna flüsterte. »Unser Leid. Er muss sich irgendwo hinwenden.«
»Genau.« Jeanne lächelte ihr zu, als wäre sie eine besonders begabte Schülerin. »Wir sind Energie. Unser Gehirn, unser Herz werden durch Impulse am Laufen gehalten. Unser Körper funktioniert dank der in Energie umgewandelten Nahrung. Nichts anderes sind Kalorien. Das hier«, Jeanne hob ihre Hände und klopfte sich auf die Brust, »ist eine ganz erstaunliche Fabrik, und sie produziert Energie. Aber wir sind außerdem emotionale und geistige Wesen, und auch das ist Energie. Aura, Strömungen, wie Sie es auch nennen wollen. Wenn Sie wütend sind«, sie wandte sich an Peter, »merken Sie da nicht, wie Sie zittern?«
»Ich werde nie wütend«, sagte er und sah sie mit kalten Augen an. Es reichte ihm jetzt langsam mit diesem Schwachsinn.
»Sie sind jetzt wütend, ich spüre es. Wir alle spüren es.« Sie drehte sich zu den anderen, die nichts dazu sagten, aus Loyalität ihrem Freund gegenüber. Aber sie wussten, dass sie recht hatte. Sie konnten seine Wut fühlen. Sie strahlte von ihm aus.
Er fühlte sich von dieser Schamanin hereingelegt und von seinem eigenen Körper betrogen.
»Das ist ganz normal«, sagte Jeanne. »Ihr Körper spürt ein starkes Gefühl und sendet Signale aus.«
»Stimmt«, sagte Gabri und sah Peter entschuldigend an. »Ich kann deine Wut spüren, und ich spüre auch das Unbehagen der anderen. Davor konnte ich Glück spüren. Alle waren entspannt. Das muss mir niemand sagen. Wenn man einen Raum voller Leute betritt, spürt man es doch sofort. Man spürt, ob die Leute froh oder angespannt sind.«
Gabri sah in die Runde, und alle nickten, selbst Monsieur Béliveau.
»In meinem Laden lernt man, Leute schnell einzuschätzen. Ob sie schlecht gelaunt oder aufgewühlt sind oder eine Bedrohung darstellen.«
»Eine Bedrohung? In Three Pines?«, fragte Madeleine.
»Nein, stimmt«, bekannte der Gemischtwarenhändler. »Es ist noch nie etwas passiert. Aber ich passe dennoch auf, nur für den Fall. Wenn jemand den Laden betritt, weiß ich sofort Bescheid, in welcher Stimmung er ist.«
»Aber doch nur, weil Sie die Körpersprache verstehen und weil Sie die Leute kennen. Das hat nichts mit Energie zu tun.« Den letzten Satz sagte Peter mit tiefer Stimme und in spöttischem Ton und ließ dabei seine Hand in der Luft vibrieren. Monsieur Béliveau erwiderte nichts darauf.
»Sie müssen nicht daran glauben«, sagte Jeanne. »Das tun die meisten Leute nicht.« Sie lächelte Peter an, von oben herab, wie er fand. »Wir bekommen schlechte Energie zurück, wenn wir schlechte Energie ausstrahlen. So einfach ist das«, sagte sie unvermittelt.
Peter sah in die Runde. Alle hörten dieser Irren aufmerksam zu, so als würden sie den Unsinn tatsächlich glauben.
»Sie haben von Gleichgewicht gesprochen«, sagte Myrna.
»Stimmt. Natur ist Gleichgewicht. Aktion und Reaktion. Leben und Tod. Alles befindet sich im Gleichgewicht. Es hat schon seine Richtigkeit damit, dass das alte Hadley-Haus nahe bei Three Pines liegt. Das Haus und das Dorf halten sich gegenseitig im Gleichgewicht.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Madeleine.
»Sie meint, dass das alte Hadley-Haus das Dunkle zu dem Licht hier ist«, sagte Myrna.
»Three