Das verlassene Haus. Louise Penny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Gamache
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701262
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Sie behauptete, sie arbeite an einem Versepos, einer Ode an die Anglos von Québec, was etwas merkwürdig war, da sie selbst Frankokanadierin war. Ihre Lesung in der Royal Canadian Legion in St-Rémy würde Clara nie vergessen. Fast alle hiesigen Schriftsteller waren eingeladen worden, so auch Ruth und Odile. Ruth hatte zuerst aus ihrem bitterbösen Gedicht An die Gemeinde vorgetragen:

      Ich beneide euer stetes Lodern,

      Angeheizt von Gottesloben.

      Ich beneide, das glaubt mir,

      dass ihr zusammen eins seid: ihr.

      Und ich sehe, ihr seht niemals ein,

      ich muss für mich alleine sein.

      Dann war Odile an der Reihe gewesen. Sie war aufgesprungen und hatte, ohne zwischendurch Luft zu holen, ihr Gedicht heruntergerasselt.

      Frühling kommt mit aller Macht,

      Der Schnee, er schmilzt, das Eis, es kracht,

      Und aus der Erde bricht,

      Getaucht in sanftes Sonnenlicht,

      Ein duftend zartes kleines Schlicht.

      »Bezauberndes Gedicht«, log Clara, als die Lesung zu Ende war und sich alle um die Bar drängten, sie hatten jetzt einen Drink nötig. »Nur aus Neugier: Was ist ein Schlicht?«

      »Das habe ich erfunden«, sagte Odile fröhlich. »Ich brauchte ein Wort, das sich auf bricht und Licht reimt.«

      »Wie Wicht?«, schlug Ruth vor. Clara warf ihr einen warnenden Blick zu, während Odile darüber nachzudenken schien.

      »Zu abgedroschen, leider.«

      »Gegen den Wicht ist das Schlicht natürlich eine Wucht«, sagte Ruth zu Clara, bevor sie sich wieder an Odile wandte. »Nun, ich fühle mich jedenfalls bereichert, wenn nicht gar befruchtet. Die einzige Dichterin, mit der man dich vergleichen möchte, ist die große Sarah Binks.«

      Odile hatte noch nie etwas von Sarah Binks gehört, wusste allerdings auch, dass sie eher in der französischen Literatur bewandert war. Sarah Binks musste eine sehr bedeutende englischsprachige Dichterin sein. Dieses Kompliment aus Ruth Zardos Mund hatte Odile Montmagnys Schaffenskraft neuen Schwung verliehen, und wenn es ruhig in ihrem Laden war, dem Maison Biologique in St-Rémy, holte sie ihr abgegriffenes, eselsohriges Schulheft hervor und dichtete drauflos, wobei sie manchmal nicht einmal auf eine Inspiration wartete.

      Clara rang selbst oft genug mit ihrer Arbeit, sie identifizierte sich daher mit Odile und ermutigte sie. Peter hielt Odile natürlich für bekloppt. Aber Clara wusste es besser, sie wusste, dass sich große Künstler oft nicht durch Genie auszeichneten, sondern durch Beharrlichkeit, und Odile war beharrlich.

      Acht Leute hatten sich an diesem Karfreitag in dem gemütlichen Hinterzimmer des Bistros eingefunden, um die Toten auferstehen zu lassen, nur die Frage, wer es tun würde, war noch nicht geklärt.

      »Ich nicht«, sagte Jeanne. »Ich dachte, einer von Ihnen wäre das Medium.«

      »Gabri?« Gilles Sandon wandte sich an den Gastgeber.

      »Aber Sie haben mir doch erzählt, dass Sie spiritistische Sitzungen abhalten«, sagte Gabri in bettelndem Ton zu Jeanne.

      »Das tue ich auch. Mit Tarotkarten, Runen und Ähnlichem. Ich nehme aber keine Verbindung mit Toten auf. Jedenfalls nicht oft.«

      Es ist komisch, dachte Clara, wenn man nur lange genug wartete und ruhig blieb, sagten die Leute die merkwürdigsten Dinge.

      »Nicht oft?«, fragte sie Jeanne.

      »Manchmal«, gab diese zu und wich einen kleinen Schritt zurück, so als wäre sie angegriffen worden. Clara zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht und versuchte weniger forsch zu wirken, wobei gegenüber dieser Frau selbst ein Schokoladenhase einen forschen Eindruck gemacht hätte.

      »Könnten Sie es nicht heute Abend machen? Bitte!«, sagte Gabri. Er sah seine kleine Party schon den Bach runtergehen.

      Winzig, farblos und unscheinbar stand Jeanne in ihrer Mitte. Da sah Clara etwas über das Gesicht der mausgrauen Frau huschen. Ein Lächeln. Nein. Ein Grinsen.

      4

      Hazel Smyth eilte geschäftig durch ihr gemütliches, vollgestopftes Haus. Sie musste noch tausend Dinge tun, bevor ihre Tochter Sophie von der Universität nach Hause kam. Die Betten waren schon frisch bezogen. Die Bohnen köchelten vor sich hin, der Teig für das Brot ging, und der Kühlschrank barst fast vor lauter leckeren Sachen. Hazel ließ sich auf das alte unbequeme Rosshaarsofa im Wohnzimmer fallen, sie spürte jeden Tag ihrer zweiundvierzig Jahre und noch ein paar mehr. Aus dem Sofa schienen Tausende winziger Nadeln zu ragen, die sich in einen bohrten, wenn man darauf Platz nahm, als wehrte es sich gegen das zusätzliche Gewicht. Und doch hing Hazel daran, vielleicht weil es sonst niemand tat. Sie wusste, dass es zu gleichen Teilen aus Rosshaar und Erinnerungen, die oft genauso wehtaten, bestand.

      »Du hast es also wirklich noch, Haze?«, hatte Madeleine vor einigen Jahren lachend ausgerufen, als sie das erste Mal in das Zimmer gekommen war. Sie war sofort zu dem alten Sofa gegangen und hatte sich über die Rückenlehne gehängt, so als hätte sie vergessen, wie Menschen sitzen, hatte der verblüfften Hazel ihren schmalen Hintern entgegengestreckt.

      »Wahnsinn«, tönte Mads Stimme gedämpft aus dem Spalt zwischen Sofa und Wand hervor. »Erinnerst du dich noch, wie wir von hier hinten deine Eltern belauscht haben?«

      Das hatte Hazel ganz vergessen. Eine weitere Erinnerung, die zu dem dick gepolsterten Sofa gehörte. Plötzlich erklang lautes Lachen, und Madeleine warf sich herum wie das Schulmädchen, das sie einmal gewesen war, blickte Hazel an und streckte ihr die Hand entgegen. Hazel beugte sich vor und sah etwas zwischen den schmalen Fingern. Etwas sauberes Weißes. Es sah wie ein kleiner, verblichener Knochen aus. Hazel holte tief Luft, ein wenig besorgt, was das Sofa wohl ausgespuckt hatte.

      »Das ist für dich.« Madeleine legte das kleine weiße Ding vorsichtig in Hazels ausgestreckte Hand. Madeleine strahlte. Man konnte es nicht anders nennen. Sie hatte einen Schal um ihren kahlen Kopf gewickelt und ihre Augenbrauen unbeholfen nachgezeichnet, sodass sie stets ein bisschen erstaunt aussah. Die bläulichen Ringe unter ihren Augen verrieten eine Müdigkeit, die nichts mehr mit schlaflosen Nächten zu tun hatte. Trotz alledem hatte Madeleine gestrahlt. Und ihre Freude durchdrang den öden Raum bis in die letzte Ecke.

      Sie hatten sich seit zwanzig Jahren nicht gesehen, und obwohl Hazel sich an jedes einzelne Ereignis aus der Zeit ihrer Jugendfreundschaft erinnerte, hatte sie merkwürdigerweise vergessen, wie lebendig sie sich in Madeleines Gegenwart immer gefühlt hatte. Sie sah auf ihre Hand. Das Ding war kein Knochen, sondern ein zusammengerollter Zettel.

      »Der steckte immer noch im Sofa«, sagte Madeleine. »Stell dir das einmal vor. Nach all den Jahren. Wahrscheinlich hat er auf uns gewartet. Auf genau diesen Moment.«

      Madeleine schien etwas Magisches an sich zu haben, erinnerte sich Hazel. Und wo es etwas Magisches gab, da geschahen auch Wunder.

      »Wo hast du ihn gefunden?«

      »Da hinten.« Mad deutete mit der Hand hinter das Sofa. »Ich hatte ihn in ein kleines Loch gesteckt, als du mal auf dem Klo warst.«

      »Ein kleines Loch?«

      »Ein kleines Loch, das ein kleiner Stift gemacht hat.« Madeleines Augen funkelten, während sie so tat, als würde sie mit einem Stift ein Loch in das Sofa bohren, und Hazel musste lachen. Sie konnte sie regelrecht vor sich sehen, wie sie in dem kostbaren Möbelstück ihrer Eltern herumbohrte. Madeleine war furchtlos. Hazel gehörte zu denen, die in der Schule Aufsicht gewesen waren, Madeleine zu denen, die sich immer verspätet ins Klassenzimmer schlichen, nachdem sie noch schnell im Gebüsch eine gequalmt hatten.

      Hazel sah auf das kleine weiße Röhrchen in ihrer Hand, das vor Sonnenlicht und fremden Blicken geschützt nach Jahrzehnten von dem Sofa wieder ausgespuckt worden war.

      Dann wickelte sie den Zettel auseinander. Und sie wusste, dass sie mit Grund Angst