Das verlassene Haus
Der dritte Fall für Gamache
Roman
Aus dem kanadischen Englischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck
Kampa
Für meinen Bruder Rob und seine Familie, Audi, Kim, Adam und Sarah, in Liebe.
1
Clara Morrow kniete im frischen feuchten Gras auf dem Dorfanger und dachte an die Auferweckung der Toten, die sie gleich nach dem Abendessen in Angriff nehmen wollten, während sie sorgsam das Osterei versteckte. Als sie sich eine Strähne aus dem Gesicht strich, verschmierte sie Grashalme, Erde und irgendwelches andere braune Zeug, das womöglich keine Erde war, in ihren zerzausten Haaren. Um sie herum schlenderten Dorfbewohner mit Körbchen voll bunter Eier auf der Suche nach den besten Verstecken über die Wiese. Mitten auf dem Anger saß Ruth Zardo auf einer Bank und ließ Eier um sich herum auf den Boden fallen, gelegentlich holte sie aus und warf eines gegen irgendjemandes Kopf oder Hinterteil. Für eine so alte und verrückte Frau traf sie bedenklich gut, dachte Clara.
»Kommst du heute Abend?«, fragte Clara, um die alte Dichterin von Monsieur Béliveau abzulenken, den sie gerade ins Visier nahm.
»Machst du Witze? Die Lebenden sind schlimm genug, warum sollte ich wollen, dass auch nur einer von den Toten aufersteht?«
Mit diesen Worten warf Ruth Monsieur Béliveau das Ei an den Hinterkopf. Zum Glück trug der Besitzer des Dorfladens eine Wollmütze, und zum Glück hatte er für die weißhaarige alte Hexe auf der Bank viel übrig. Ruth suchte sich ihre Opfer mit Bedacht aus. Es waren fast ausschließlich Leute, die sie mochten.
Wobei es nicht weiter schlimm gewesen wäre, von einem Schokoladenei getroffen zu werden, aber die hier waren nicht aus Schokolade. Diesen Fehler hatten sie nur einmal gemacht.
Als das Dorf Three Pines vor einigen Jahren zum ersten Mal beschlossen hatte, am Ostersonntag ein großes Eiersuchen zu veranstalten, waren alle furchtbar aufgeregt gewesen. Die Dorfbewohner trafen sich in Oliviers Bistro, und über dem einen oder anderen Gläschen Wein und Stück Brie verteilten sie tütenweise Schokoladeneier, die am nächsten Tag versteckt werden sollten. Alle riefen »Ooh« und »Aah« und waren ein klein wenig neidisch. Ach, wären sie doch nur wieder Kinder. Aber es war sicher auch schön, die freudigen Gesichter ihrer Kinder zu sehen. Außerdem fanden die Kinder womöglich nicht alle Eier, insbesondere die, die sie hinter Oliviers Bar versteckt hatten.
»Sie sind entzückend.« Gabri nahm eine winzige, perfekt geformte Marzipangans und biss ihr den Kopf ab.
»Gabri.« Olivier, sein Lebensgefährte, riss den Rest der Gans aus Gabris Pranke. »Die sind für die Kleinen.«
»Du willst sie doch bloß für dich selbst haben.« Gabri wandte sich zu Myrna und zischte ihr laut und vernehmlich zu: »Tolle Idee. Schwule, die Süßigkeiten an Kinder verteilen. Ruf doch schon mal die Sittenpolizei!«
Der scheue, blonde Olivier lief knallrot an.
Myrna lächelte. Sie sah selbst wie ein riesiges Osterei aus, schwarz, dick und in einen leuchtend violetten und roten Kaftan gehüllt.
Die meisten Bewohner des kleinen Dorfs hatten sich im Bistro versammelt und standen an der langen, auf Hochglanz polierten Bar oder hatten es sich in einem der bequemen, alten Polstersessel gemütlich gemacht. Alles zu verkaufen. Oliviers Bistro war gleichzeitig ein Antiquitätenladen. An allem baumelten dezente Preisschildchen, auch an Gabri, wenn er sich nicht genügend beachtet und gelobt fühlte.
Es war Anfang April, und in den offenen Kaminen knisterte ein munteres Feuer, das den von Alter und Sonne nachgedunkelten Dielenboden und die Balken zum Leuchten brachte. Die Bedienungen schlängelten sich geschickt zwischen den Tischen durch und boten Getränke und weichen, reifen Brie von Monsieur Pagés Farm an. Das Bistro befand sich in der Mitte des alten Québecer Dorfes, genau am Rand des Dorfangers. Zu seiner Linken und Rechten waren die übrigen Geschäfte untergebracht, in alten Ziegelhäusern, die alle durch Türen verbunden waren und dem Dorfleben ein solides Fundament gaben. Monsieur Béliveaus Gemischtwarenladen, Sarahs Bäckerei, das Bistro und zu guter Letzt Myrnas Buchladen. Seit Urzeiten standen auf der gegenüberliegenden Seite des Angers drei knorrige Kiefern wie die drei Weisen, die an ihrem Ziel angekommen waren. Vom Dorf führten unbefestigte Straßen auf verschlungenen Wegen durch die Berge und Wälder.
Three Pines selbst war ein blinder Fleck auf der Landkarte. Die Zeit rauschte dahin, und manchmal streifte sie das Dorf, aber nie für lange und kaum jemals Spuren hinterlassend. Seit Jahrhunderten duckte sich das Dorf zwischen die zerklüfteten kanadischen Berge, und wenn überhaupt, dann wurde es nur durch Zufall in seinem Versteck gefunden. Manchmal erklomm ein müder Reisender den Hügel und erblickte dort unten, als wäre es Shangri-La, den einladenden Kreis von alten Häusern. Einige bestanden aus verwitterten Feldsteinen, errichtet von Siedlern, die das Land von tief wurzelnden Bäumen und schweren Felsbrocken befreit und sich dabei einen krummen Rücken geholt hatten. Andere waren aus roten Ziegeln und von den United Empire Loyalists, die auf ihrer Flucht aus den USA hier gelandet waren, erbaut worden. Wieder andere hatten die geschwungenen Metalldächer der Québecer Häuser mit ihren hohen Giebeln und breiten Veranden. Ganz am Ende befand sich Oliviers Bistro, in dem man immer auf einen Café au lait und frisch gebackene Croissants, freundliche Gespräche und nette Gesellschaft zählen konnte. Hatte man Three Pines erst einmal gefunden, vergaß man es nicht mehr so schnell. Aber es wurde nur von Verirrten gefunden.
Myrna sah zu ihrer Freundin Clara Morrow hinüber, die ihr die Zunge herausstreckte. Myrna streckte ihrerseits die Zunge heraus. Clara verdrehte die Augen. Myrna verdrehte die Augen, dann nahm sie neben Clara auf dem bequemen Sofa vor dem Kamin Platz.
»Du hast hoffentlich nicht wieder Gartenmulch geraucht, während ich in Montréal war, oder?«
»Dieses Mal nicht«, lachte Clara. »Du hast etwas an der Nase.«
Myrna betastete ihre Nase, fand etwas und besah es sich. »Hm, entweder ist es Schokolade oder Haut. Das lässt sich nur auf eine Art herausfinden.«
Sie steckte es in den Mund.
»Igitt«, jaulte Clara auf. »Und du wunderst dich, dass du Single bist.«
»Das tu ich doch gar nicht.« Myrna lächelte. »Ich brauche keinen Mann, um mich als ganze Frau zu fühlen.«
»Ach ja? Und was war mit Raoul?«
»Ach, Raoul«, sagte Myrna verträumt. »Der war süß.«
»Er war ein richtiges Gummibärchen«, stimmte Clara zu.
»Er machte mich zu einer ganzen Frau«, sagte Myrna. »Rundete mich sozusagen ab.« Sie tätschelte ihren Bauch, der groß und ausladend war, wie die ganze Frau.
»Seht euch das an.« Eine rasiermesserscharfe Stimme brachte sie beide zum Verstummen.
Ruth Zardo stand mitten im Bistro und streckte eine Hand mit einem Schokoladenhasen in die Luft, als wäre er eine Granate. Er war aus dunkler Schokolade, die langen Ohren wachsam aufgestellt, das Gesicht so realistisch, dass Clara fast damit rechnete, seine feinen Schnurrbarthaare aus Zuckerguss würden gleich zu zittern beginnen. In seinen Pfoten hielt er ein Körbchen aus weißer und brauner Schokolade und in dem Körbchen lag ein Dutzend hübsch bemalter Zuckereier. Der Hase war entzückend und Clara betete, dass Ruth damit nicht nach jemandem werfen würde.
»Ein Hoppelhäschen«, zischte die alte Dichterin.
»Die esse ich auch«, sagte Gabri zu Myrna. »Am liebsten in Form eines Doppelhäschens.«
Myrna lachte und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Ruth funkelte sie an.
»Ruth.« Clara erhob sich und näherte sich Ruth vorsichtig, den Scotch ihres Ehemanns Peter als Lockmittel in der Hand. »Tu bitte dem Häschen nichts.«
So etwas hatte sie noch nie gesagt.
»Es ist ein Hase«, sagte Ruth langsam, als wäre Clara ein begriffsstutziges Kind. »Woher hat er also die hier?«
Sie deutete auf die Eier.
»Seit