Das Komische war, dass Clara bei den Worten der alten Dichterin tatsächlich ein paar Schokoladenhühner vor sich sah, die völlig aufgelöst auf der Suche nach ihren Eiern herumrannten. Eier, die der Osterhase gestohlen hatte.
Ruth ließ den Schokoladenhasen auf den Boden fallen, wo er zerbrach.
»O Gott«, sagte Gabri und lief, um die Reste aufzuheben. »Der war für Olivier.«
»Wirklich?«, fragte Olivier, der offenbar vergessen hatte, dass er ihn selbst gekauft hatte.
»Ostern ist ein höchst merkwürdiges Fest«, stellte Ruth finster fest. »Ich habe es nie gemocht.«
»Was von heute an wohl auf Gegenseitigkeit beruht«, erwiderte Gabri und hielt den kaputten Hasen wie ein verletztes Kind. Er ist ein so sanftmütiger Mann, dachte Clara nicht zum ersten Mal. Gabri war groß und kräftig, regelrecht bullig, darüber vergaß man leicht, wie sensibel er war. Außer in Momenten wie diesem, wenn er zärtlich einen sterbenden Schokoladenhasen im Arm wiegte.
»Wie feiern wir Ostern?«, fragte die alte Dichterin, schnappte sich Peters Scotch aus Claras Hand und stürzte ihn hinunter. »Wir suchen Eier und essen kleine Osterlämmer.«
»Aber wir gehen auch in die Kirche«, sagte Monsieur Béliveau.
»In Sarahs Bäckerei gehen mehr Leute als in die Kirche«, giftete Ruth. »Und dort kaufen sie Gebäck heidnischen Ursprungs. Ich weiß, ihr haltet mich für verrückt, dabei bin ich wahrscheinlich die einzig Vernünftige hier.«
Mit dieser verwirrenden Bemerkung humpelte sie zur Tür, wo sie sich noch einmal umdrehte.
»Versteckt lieber keine Schokoladeneier für die Kinder. Es wird etwas Schlimmes geschehen.«
Wie Jeremia, der weinende Prophet, sollte sie recht behalten.
Am nächsten Morgen waren die Eier verschwunden. Alles, was man von ihnen noch fand, war das Einwickelpapier. Zuerst hatten die Dorfbewohner die älteren Kinder in Verdacht oder sogar Ruth, die das Ganze sabotiert haben könnte.
»Seht euch das an«, rief Peter und hielt die zerfetzte Schachtel eines Schokoladenhasen in die Höhe. »Abdrücke von Zähnen. Und Krallen.«
»Dann war es also doch Ruth«, sagte Gabri, nahm die Schachtel und besah sie.
»Schaut.« Clara rannte einem Einwickelpapier hinterher, das über den Dorfanger wehte. »Das ist auch ganz zerfetzt.«
Sie verbrachten den Vormittag damit, buntem Einwickelpapier hinterherzulaufen und die Reste des Schlachtfests zu beseitigen, danach versammelten sie sich wieder bei Olivier, um sich am Feuer aufzuwärmen.
»Ernsthaft«, sagte Ruth zu Clara und Peter beim Mittagessen im Bistro. »Damit war doch zu rechnen.«
»Ich gebe zu, dass es nicht wirklich überraschend ist«, Peter lachte und schnitt in seinen goldbraunen Croque Monsieur, der geschmolzene Camembert konnte den geräucherten Schinken und das blättrige Croissant kaum zusammenhalten. Um ihn herum waren besorgte Eltern damit beschäftigt, ihre weinenden Kinder mit Kakao zu besänftigen.
»Letzte Nacht muss jedes wilde Tier aus einem Umkreis von ein paar Kilometern in unserem Dorf gewesen sein«, sagte Ruth und ließ die Eiswürfel in ihrem Scotch kreisen. »Um sich den Bauch mit Ostereiern vollzuschlagen. Füchse, Waschbären, Eichhörnchen.«
»Braunbären«, sagte Myrna, die sich zu ihnen gesellte. »Himmel, das ist ganz schön unheimlich. All diese Bären, die nach ihrem langen Winterschlaf aufwachen und halb verhungert aus ihren Höhlen kriechen.«
»Man muss sich mal ihre Überraschung vorstellen, als sie die Schokoladeneier und -hasen fanden«, sagte Clara zwischen zwei Löffeln ihrer cremigen Fischsuppe mit Lachsstückchen, Kammmuscheln und Shrimps. Sie nahm ein knuspriges Baguette, riss ein Stück ab und bestrich es mit Oliviers exquisiter Süßrahmbutter. »Die Bären müssen sich gefragt haben, welches Wunder während ihres Winterschlafs geschehen ist.«
»Nicht alles, was aufersteht, ist ein Wunder«, sagte Ruth, blickte von der goldfarbenen Flüssigkeit, ihrem Mittagsmahl, auf und sah aus dem Fenster. »Nicht alles, was wieder zum Leben erwacht, soll das auch tun. Das ist eine seltsame Jahreszeit. Den einen Tag regnet es, den nächsten Tag gibt es Schnee. Nichts ist gewiss. Alles ist völlig unberechenbar.«
»Jede Jahreszeit ist unberechenbar«, sagte Peter. »Im Herbst gibt es Orkane, im Winter Schneestürme.«
»Damit bestätigst du nur, was ich sage«, sagte Ruth. »Man hat Namen für die Bedrohung. Man weiß in diesen Jahreszeiten, was zu erwarten ist. Nur nicht im Frühjahr. Im Frühjahr passieren die schlimmsten Überflutungen. Waldbrände, Frosteinbrüche, Schneestürme und Schlammlawinen. Die Natur ist in Aufruhr. Es kann alles passieren.«
»Im Frühjahr gibt es aber auch so schöne Tage, dass einem das Herz aufgeht«, sagte Clara.
»Stimmt, das Wunder der Wiedergeburt. Soweit ich weiß, gründen ganze Religionen auf dieser Idee. Aber es gibt Dinge, die besser begraben bleiben sollten.« Die alte Dichterin erhob sich und trank ihren Scotch aus. »Noch ist es nicht vorbei. Die Bären werden zurückkommen.«
»Das würde ich auch«, sagte Myrna, »wenn ich auf ein Dorf stieße, das ganz aus Schokolade besteht.«
Clara lächelte, aber ihre Augen ruhten dabei weiter auf Ruth, die heute noch etwas anderes als Zorn oder Überdruss ausstrahlte. Clara nahm etwas sehr viel Beunruhigenderes wahr.
Angst.
2
Ruth hatte recht gehabt. Die Bären kamen von da an Jahr für Jahr zu Ostern und suchten nach Schokoladeneiern. Als sie nie mehr welche fanden, gaben sie es irgendwann auf und blieben in den Wäldern um Three Pines herum. Die Dorfbewohner lernten schnell, dass sie zur Osterzeit keine ausgedehnten Spaziergänge in den Wäldern machen und niemals zwischen ein Bärenjunges und seine Mutter geraten sollten.
Das ist eben die Natur, erklärte Clara. Aber eine gewisse Besorgnis blieb. In gewisser Weise hatten sie es sich selbst zuzuschreiben.
Wieder einmal ließ sich Clara auf alle viere nieder, dieses Mal mit den hübschen Holzeiern, die sie nun statt der essbaren nahmen. Diese Idee stammte von Hanna und Roar Parra. Die beiden kamen aus der ehemaligen Tschechoslowakei und bewiesen großes Geschick beim Bemalen von Eiern.
Den Winter über schnitzte Roar die Holzeier, und Hanna verteilte sie an alle, die Lust hatten, sie zu bemalen. Bald holten sich Leute aus den gesamten Cantons de l’Est Eier. Schulkinder bemalten sie im Kunstunterricht, Eltern besannen sich auf ihre brachliegenden Talente, und Großeltern malten Bilder aus ihrer Kindheit. Während des langen Québecer Winters wurde gemalt, und an Karfreitag fingen sie an, sie zu verstecken. Wenn die Kinder sie gefunden hatten, tauschten sie die hölzernen Stellvertreter gegen richtige Eier aus. Richtige Schokoladeneier zumindest.
»Seht euch das an«, rief Clara vom Ufer des Teichs auf dem Dorfanger. Monsieur Béliveau und Madeleine Favreau gingen zu ihr. Monsieur Béliveaus lange, schlanke Gestalt klappte wie ein Messer zusammen, als er sich bückte. Dort in dem hohen Gras war ein Nest mit Eiern.
»Sie sind echt«, er lächelte und schob das Gras auseinander, um es Madeleine zu zeigen.
»Wie hübsch«, sagte Mad und streckte die Hand aus.
»Nicht doch«, sagte er. »Wenn du sie anfasst, wird die Mutter sie nicht mehr ausbrüten.«
Mad zog ihre Hand schnell zurück und blickte Clara freundlich lächelnd an. Clara hatte Madeleine von Anfang an gemocht, auch wenn sie sich nicht besonders gut kannten. Mad war erst vor ein paar Jahren hergezogen. Sie war ein wenig jünger als sie, eine schöne, lebhafte Frau mit kurzen, dunklen Haaren und intelligenten braunen Augen. Sie machte stets einen glücklichen und zufriedenen Eindruck. Warum auch nicht?, dachte Clara. Nach dem, was sie durchgemacht hatte.
»Was sind das für Eier?«,