Lange, nachdem sie das Gespräch beendet hatten, starrte Trent noch immer auf den stummen Fernseher. In vielerlei Hinsicht hatten seine und Byrons Situation nichts gemeinsam. Und doch hatte der Tod seines Freundes Trent zutiefst erschüttert. Er hatte zusammen mit seinem Gott-Komplex offenbar ein Allmächtigkeitsgefühl entwickelt. Was der Grund dafür war, warum er in Ashe nicht als Chirurg, sondern als Allgemeinmediziner in der neuen Poliklinik angefangen hatte.
Die Chirurgie machte ihn süchtig. Er fühlte sich wie ein Gott, wenn ein Leben rettete. Er fühlte sich wie ein Rockstar, wenn die Angehörigen seiner Patienten ihn mit Lob überschütteten. Aber es nagte auch an ihm und fraß all seine Energie auf.
Obwohl Byron nicht etwa einem Unfall zum Opfer gefallen war, sondern sich das Leben genommen hatte, war Trent plötzlich überzeugt, dass ihm die Zeit davonlief. Er wollte mehr als eine erfolgreiche Karriere und das Lob von Fremden.
Er wollte jemanden, der ihn so sehr liebte, wie Helen Byron geliebt hatte.
Kapitel 4
Dezember
Xavier rauchte vor dem Klinikeingang gerade seine dritte Zigarette, als Trent auf dem Weg hinein stehen blieb und zweimal hinschaute.
Es war halb acht und die gesamte Belegschaft war gebeten worden, morgens zu einer Besprechung zu kommen, bevor die Klinik öffnete. Zum Glück wurde Xavier in seinem Gärtnerjob nicht gebraucht. Zu seiner Erleichterung gab es im Winter weniger Arbeit, aber außerhalb der Saison bot die Firma Schneeräumung und Aufräumarbeiten nach Stürmen an.
„Was zum Teufel soll das, Xavier? Dein Vater ist an Krebs gestorben.“
Es ärgerte Xavier, dass Trent so viel von seiner Vergangenheit wusste. Er hob die Zigarette, nahm gemächlich einen Zug und blies den Rauch durch den Mundwinkel aus. „Du weißt, dass er den Krebs nicht vom Rauchen hatte.“
„Okay. Du bist ein Mitarbeiter des Gesundheitswesens und stehst vor einer Klinik. Wie wäre es damit? Du siehst aus wie eine lebende Zigarettenwerbung.“
Xavier rauchte nicht immer und war nur mehr selten der Kettenraucher von früher. Er hatte etwas gebraucht, um seine Nerven zu beruhigen, bevor er seinem Ex in der Klinik wieder begegnete. Seit Trent ihn in dem Waschraum angebaggert und Xavier die leere Drohung in den Raum gestellt hatte, er würde sich beschweren, war Trent weitgehend auf Distanz geblieben. Wann immer sie miteinander zu tun hatten, war die Atmosphäre ziemlich frostig gewesen.
Das machte es auch nicht gerade leichter, ihn zu sehen. Wenn überhaupt, dann trug die Spannung zwischen ihnen höchstens zu seinem Stress bei. Er fühlte sich mies, weil er Trents Karriere bedroht hatte. Er wusste, dass der Freund eines Mitbewohners, Doktor Paul Johnston, durch die Hölle gegangen war, als man ihn wegen einer laufenden Untersuchung beurlaubt hatte. Das hatte ihn überhaupt erst auf die Idee gebracht. Aber es war gemein gewesen, es zu sagen. Besonders, weil die Erinnerung an Trents Kuss immer noch manchmal ein prickelndes Gefühl in ihm auslöste. Wie jetzt zum Beispiel.
Er sah Trent ein wenig zu lange an und seine Gedanken schweiften ab. Vielleicht hätte ich einfach mit ihm ficken und es damit abschließen sollen.
„Xav?“
Nur Trent benutzte diese Kurzform seines Namens. Die meisten Leute nannten ihn Xavier, ein paar enge Freunde X. Aber Xav sagte nur Trent und es von ihm zu hören, wärmte ihn von innen und löste gleichzeitig Panik aus. Er konnte Trent nicht erlauben, seine magische Wirkung auf ihn zu entfalten.
Er ließ die Kippe fallen, trat sie aus, hob sie auf und trug sie zum nächsten Mülleimer.
Trent verfolgte jede seiner Bewegungen.
„Jetzt zufrieden, Doktor?“, fragte er und klang wesentlich sarkastischer, als er sonst je mit einem Arzt gesprochen hätte. Er war immer noch Student und seine berufliche Zukunft lag in den Händen der Leute, die ihn für einen Job empfehlen konnten. Gewöhnlich erinnerte er sich daran und verhielt sich entsprechend.
„Danke“, sagte Trent. „Wann hast du dir denn dieses grausige Laster angewöhnt? In der Schule hast du nicht geraucht.“
„Muss ungefähr zu der Zeit gewesen sein, als du mir gesagt hast, dass ich es nie zu was bringen werde“, erwiderte Xavier.
Trent zuckte zusammen. „Ich schätze, das habe ich verdient.“
„Ich gehe besser rein.“
„Xavier, bitte. Können wir wenigstens normal miteinander reden? Wir arbeiten zusammen.“
Autsch. Trent spielte die Professionalitätskarte aus. Das konnte Xavier schlecht ignorieren. Ihm war durchaus bewusst, dass er Trent respektlos behandelt hatte. Er blieb stehen. „Es tut mir leid. Ich war unhöflich. Ich werde hier draußen nicht mehr rauchen.“
„Das weiß ich zu schätzen. Denkst du, wir könnten einander vielleicht in der Aula grüßen? Oder ein bisschen Smalltalk machen, wenn wir uns draußen über den Weg laufen? Ich kann über das Wetter, Golf und schlechte Realityshows im Fernsehen reden, denn viel mehr habe ich im Moment nicht.“
Xavier grinste trotz der Alarmglocken, die in seinem Kopf schrillten. Warnung, Warnung, Objekte sind möglicherweise näher, als es scheint …
„Wetter ist ein Klassiker. Ich kann dir zum Beispiel sagen, dass es hier draußen eiskalt ist. Deshalb gehe ich jetzt rein.“
Trent griff nach der Tür. „Nach dir.“
Xavier warf ihm einen Seitenblick zu. „Da sage noch einer, es gäbe keine Kavaliere mehr.“
Trent lächelte, aber er sah ein wenig verlegen aus. „Das hat nichts zu bedeuten.“
Die verdammte Drohung mit der Beschwerde machte ihn offenbar nervös.
Sie durchquerten die Lobby und gingen durch den langen Korridor, der zum Konferenzraum führte. Xavier legte eine Hand auf Trents Arm, um ihn zu kurz stoppen, solange sie noch etwas Privatsphäre hatten. „Warte.“
„Was ist denn?“ Trent zückte sein Handy und sah auf die Uhr. „Das Meeting beginnt gleich. Wir planen eine Präventionsoffensive in West Kansas. Ich glaube, das wird dir gefallen.“
Trent redete zu viel und fühlte sich offensichtlich unwohl. Xavier hatte seinen Ex auf Distanz halten wollen. Aber er wollte nicht, dass Trent sich unnötige Sorgen wegen einer leeren Drohung machte, die er in einem Moment der Feindseligkeit ausgestoßen hatte. Xavier musste die innere Stärke finden, der Versuchung zu widerstehen, ohne zu unfairen Mitteln zu greifen.
„Hör mal, was ich wegen der Beschwerde gesagt habe, die ich einreichen würde …“
Trent hob die Hände, von denen eine immer noch sein Telefon umklammerte, und trat einen Schritt zurück. „Ich respektiere deine Grenzen, Xavier.“
„Es tut mir leid.“
Trent blinzelte. „Es tut dir leid?“
Xavier strich sich ein paar lose Dreadlocks aus dem Gesicht. Er war auch nervös. Sein Haar war zusammen gebunden und zu einem Knoten gedreht. Das alles wurde unsicher von einem einzigen Haargummi zusammengehalten. Er nahm ihn ab und ließ seine Dreadlocks über seine Schultern fallen, bevor er alles wieder ordentlich zusammenband. Gelichzeitig redete er, weil ihm die Bewegung seiner Hände half, die unangenehme Entschuldigung hinter sich zu bringen. Es entging ihm aber nicht, dass sein Ex ihn mit großen Augen beobachtet hatte, als er sein Haar öffnete. Ihm wurde klar, dass Trent ihn noch nie mit offenen Haaren gesehen hatte, seit sie länger geworden waren. In der Schule hatte er eine glatte, konservative Frisur gehabt und als sie einander im Sommer in dem Club begegnet waren, hatte er noch keine Dreadlocks gehabt.
„Ich hätte dich nicht bedrohen sollen“, sagte Xavier. „Ich würde so etwas nie tun. Ich weiß doch, wie wichtig deine Karriere für dich ist.“
Trents Blick folgte der Bewegung von Xaviers Händen, als er sein Haar in Ordnung brachte. „Es gibt wichtigere Dinge als meine Karriere“, sagte Trent.