Marion aber schwor sich: ›So will ich nicht werden. So nicht. Vielleicht warten furchtbare Dinge auf mich; sehr wohl möglich, daß sich Schlimmes für mich vorbereitet. Aber ich will keinesfalls als alte Frau in einem engen Pariser Zimmer die Hände recken zu einer Gebärde des Jammers, die nicht einmal mehr die Kraft hat, eine Gebärde der Anklage zu sein. Ich will mir auch nicht von meinem Kinde sagen lassen, daß ich ihm die Heimat gestohlen habe. Im Gegenteil: was ich hören möchte von meinem Kinde, das sind Worte des Dankes dafür, daß wir ihm jetzt eine bessere Heimat erkämpfen . . .‹
Während Marion solches dachte und sich im Herzen gelobte, hatte Anna Nikolajewna sich gefaßt. Ihre Haltung war nun wieder damenhaft zusammengenommen. »Mein liebes Kind«, sagte sie, und hatte noch einmal die nervös wischende Geste, mit der sie sich über die Stirne fuhr, »entschuldigen Sie: das war unmanierlich. Übrigens sind Sie selber ein wenig schuld daran, daß ich heute so sentimental und unbeherrscht bin. — Ja ja«, behauptete sie mit neckischem Nachdruck und hob scherzhaft streng den Zeigefinger, als wäre sie ihrem Gast hinter eine harmlos drollige kleine Verfehlung gekommen, »ja ja, mon enfant, ich habe mich doch ein wenig aufgeregt, als ich erfuhr, daß auch Sie . . . wie soll ich mich ausdrücken? —: nun, daß Sie diesmal nicht ganz freiwillig nach Paris gefahren sind . . .«
»Ich hätte genau so gut nach London reisen können«, bemerkte Marion, nicht besonders freundlich. Daraufhin Madame Rubinstein, immer noch neckisch und insistent: »Aber sie hätten nicht genau so gut in Berlin bleiben können. Oder irre ich mich?«
»Nein«, sagte Marion. »Weil ich dort erstickt wäre.«
Anna Nikolajewna zuckte müde die Achseln. »Das haben wir alle einmal geglaubt — daß wir zu Hause ersticken müßten, wenn dort Leute regieren, die uns nicht gefallen.« Und nach einer Pause, die ziemlich lange dauerte, fragte sie sanft: »Haben Sie auch wohl bedacht, was das bedeutet — das Exil?«
»Mir scheint, daß ich es wohl bedacht habe«, versetzte Marion trotzig und knackte mit den lockeren Gelenken ihrer langen Finger.
Die Russin sprach aus der Dämmerung, mit melodisch gedämpfter Stimme, als erzählte sie ein Märchen für die lieben Kleinen: »Es ist hart, das Exil, mon pauvre enfant. Es werden Stunden kommen, da Sie sich der Worte erinnern, die ich Ihnen jetzt sage. Das Exil ist hart. Man ist als Emigrant nicht viel wert. Man ist gar nicht sehr angesehen. Die Leute wollen uns nicht — es macht kaum einen Unterschied, ob man politisch mit uns sympathisiert; ob man die Gründe, die uns zur Emigration bewogen haben, ablehnt, oder ob man sie billigt. Man verachtet uns, weil wir nichts hinter uns haben. In dieser kollektivistischen Zeit muß der Einzelne etwas hinter sich haben, damit er achtenswert scheint. Für uns gibt es nicht einmal ein Konsulat oder eine Gesandtschaft, an die wir uns wenden könnten. Wir haben gar nichts. Deshalb verachtet man uns — und ganz besonders wenig schätzt man uns hier in Paris, dieser klassischen Emigranten-Stadt, die unserer müde ist, weil sie uns zu gut kennt. Hier treffen sich ja alle, schon seit Jahrzehnten: die entthronten Könige und die Arbeiterführer; die Ungarn und die Russen; die italienischen Exilierten und die spanischen; die Armenier, die Jugoslawen, die Griechen, Türken, Bulgaren, Südamerikaner — und nun also auch noch die Deutschen. Unterhalten Sie sich einmal mit einem dieser Heimatlosen, die seit zehn oder fünfzehn Jahren in Paris herumsitzen! Fragen Sie einmal irgendeinen von diesen, was er hier erlebt und ausgestanden hat! Es wird interessant für Sie sein, liebes Kind . . .«
»Ich habe gerade gestern nacht einen beobachtet«, sagte Marion. »Diesen ungarischen Grafen, der einmal Ministerpräsident war und alle seine Güter weggeschenkt hat. Er saß neben uns im Café Select und spielte Schach mit sich selber.«
»Sie hätten ihn anreden sollen. Manchmal ist er gesprächig, und dann erzählt er von kleinen und von großen Enttäuschungen; von allerlei Erniedrigungen, die er tragen mußte — und früher war er ein so großer Herr! Es wäre ungeheuer aufschlußreich für Sie gewesen. Denn Sie sind ja noch eine Anfängerin.«
Da Marion schwieg und nur fragend schaute, erklärte Anna Nikolajewna ausführlicher, was sie meinte: »Sie sind noch eine Anfängerin in diesem harten, quälenden Geschäft — wenn ich einen so tragischen Lebens-Zustand wie das Exil als ein ›Geschäft‹ bezeichnen darf. Ihr seid noch ahnungslose Dilettanten!« rief die Russin hochmütig. »Es gibt tausend kleine Erfahrungen, die sich kaum beschreiben lassen, unzählige Qualen der verschiedensten Art, viele Schmerzen, immer betrogene Hoffnungen — Monotonie und Ruhelosigkeit des unbehausten Lebens — ein Heimweh, das niemals aufhört —: ach, meine arme Marion, all dies zusammen, und noch manches, was ich jetzt gar nicht andeuten kann, das macht das Exil aus. — Es ist keine Bagatelle«, sagte sie, abschließend, wieder in ihrem lockeren, damenhaften Konversations-Ton. »Durchaus keine Bagatelle.« Dabei schüttelte sie die Manschetten graziös über ihren Händen. Dann goß sie Tee ein.
. . . Später erschienen Herr Rubinstein und die kleine Germaine. Man speiste zu Abend, es gab Schinken und Eier, dazu wieder Tee und für jeden ein Gläschen Wodka. Herr Rubinstein aß viel und schweigsam. Er war ein weichlicher Koloß mit sehr gutmütigen Augen — Hundeaugen, wie Marion fand — und einer grauen, auffallend porösen Gesichtshaut. Die kleine Germaine war sehr hübsch und ernst. Sie rührte beinah nichts von der Mahlzeit an, was ihre Mutter besorgt tadelte. »Ich habe keinen Hunger«, sagte die kleine Germaine. Nachdem der Tisch abgeräumt war, begann Herr Rubinstein, beinah ohne Übergang, von alten russischen Tagen zu erzählen. Anna Nikolajewna versuchte, das Gespräch auf aktuelle Pariser Ereignisse zu bringen; etwas krampfhaft plauderte sie über einen Ministersturz, eine Opernpremière. Léon aber fand Mittel und Wege, immer wieder auf seine Moskauer Reminiszenzen zu kommen. »Heute habe ich den alten Petroff im Klub getroffen«, berichtete er. »Mein Gott, wenn ich mich erinnere . . .«
Die kleine Germaine verabschiedete sich ziemlich bald. »Ich habe eine Verabredung«, erklärte sie kurz auf die unruhige Frage der Mutter. Herr und Frau Rubinstein wechselten einen betrübten, ratlosen Blick. Die Tochter, in grausamer Wortlosigkeit, setzte sich vorm Spiegel ihr schickes schwarzes Hütchen auf. Der Rahmen des Spiegels war mit dicken, drolligen Engeln verziert: eine der niedlichen Arbeiten Anna Nikolajewnas, die sich als unverkäuflich erwiesen hatte.
Martin war den ganzen Tag unruhig. ›Auf was warte ich‹, dachte er. Paris interessierte ihn nicht. Er hatte keine Lust auszugehen. Er versuchte zu schreiben. Das Papier vor ihm blieb leer. Auch das Buch, das er zu lesen angefangen hatte, langweilte ihn. Er wußte, worauf er wartete.
Der Geruch von Staub und einem süßlichen Jasmin-Parfum, der sein enges Hotelzimmer füllte, war ihm ekelhaft. Trotzdem brachte er bis gegen Abend die Energie nicht auf, auszugehen. Er klopfte mehrfach bei Marion an, die im selben Stockwerk wohnte wie er; aber sie schien den ganzen Tag unterwegs zu sein. Es gab auch noch ein paar Bekannte im Hotel »National«; Martin hatte keine Lust, sich mit ihnen zu unterhalten. Er schaute auf die Straße hinaus und beobachtete die Leute, die gegenüber im kleinen Bistrot ihren Kaffee oder Apéritif tranken. Einige kauften sich Zigaretten und Briefmarken. Martin konnte ihre Gespräche und Gelächter hören. Plötzlich ertappte er sich dabei, daß er an Berlin dachte.
Als er abends das Hotel verlassen wollte, begegnete er Kikjou vor der Loge des Concierges. »Ich suche Sie«, sagte Kikjou, als ob das eine Selbstverständlichkeit wäre. ›Haben wir denn ein Rendezvous für heute abend gemacht?‹ überlegte Martin einen Augenblick lang. Er war aber vorsichtig genug, seine Zweifel nicht auszusprechen. Vielmehr sagte er nur: »Das ist nett. Wohin gehen wir essen?«
Kikjou wußte ein kleines Restaurant, in der rue de Seine. »Es ist eigentlich gar kein Lokal«, sagte er, »nur eine enge Stube, wo gerade zwei Tische Platz haben. Die Patronne kocht selber, und das Fräulein Tochter bedient. Aber man ißt dort ausgezeichnet und gar nicht teuer.«
Die Unterhaltung, abwechselnd deutsch und französisch geführt, blieb erst bei literarischen Gegenständen. Martin sagte, wie sehr er Rimbaud liebe, Kikjou gestand