Dann wendete der Meister sich wieder an die ganze Gesellschaft und erklärte, gegenüber, im »Select«, sitze der reiche Bernheim mit noch ein paar Leuten. »Wollen wir nicht hinübergehen? Er bezahlt uns die Drinks.« Alle waren dafür, aber die Schwalbe sagte: »Ich muß erst noch ins alte ›Dôme‹ und in die ›Rotonde‹ schauen, ob nicht die arme Proskauer irgendwo sitzt. Sie kommt direkt aus Berlin und wird sicher etwas Interessantes zu erzählen haben.«
Samuel, mit Marion, Martin, Kikjou und dem schüchternen Studenten ging schon ins »Select« hinüber, wo der reiche Bernheim die Drinks bezahlen würde; während die Schwalbe sich von Marcel und David ins alte »Dôme« begleiten ließ. Dort fanden sie gleich das Mädchen, welches sie suchten; sie saß in einem kleineren Nebenraum in der Nähe der Theke. Die Proskauer, mit einer ungewöhnlich langen, stark gebogenen Nase, an der die dunkeln, sorgenvollen Augen behindert vorbeiblickten, präsentierte sich als eine sehr häßliche, aber Vertrauen einflößende, sympathische Person. Sie hielt sich schlecht; ihr schräg gehaltener Kopf mit tief sitzendem, unordentlich geflochtenem schwarzem Haarknoten, steckte zwischen den zu hohen Schultern. Ihre Worte kamen wie das leise, undeutlich-sonore verständige Plätschern einer kleinen Quelle unter der Felszacke ihrer Nase hervor. Man hätte sie recht gerne als milde Schwester um sich gehabt, wenn man fiebrig zu Bette lag. Marcel empfand angesichts dieses Typs von Mädchen ein Mitleid, das an Zärtlichkeit grenzte. »Pauvre enfant«, dachte er und schaute die Proskauer leuchtend aus den Sternenaugen an.
Bei ihr am Tisch saßen zwei Männer, beide hatten fast drohend ernste, unrasierte Mienen, und sie wirkten, als versteckten sie hohe, derbe, kotbespritzte Stiefel. Die Proskauer stellte sie als Theo Hummler und Dr. Mathes vor: »zwei sozialdemokratische Genossen«, murmelte sie verständig. Die beiden hatten einen erschreckend festen Händedruck. Als sie mit Marcel bekannt wurden, sagten sie: »Enchanté«, wurden etwas rot und lachten geniert, als wäre es ein ungehöriger kleiner Scherz, daß sie das französische Wort benutzten. Beide Männer waren groß gewachsen und gut aussehend. Theo Hummler hatte sehr dichtes, schwarzes ein wenig fettiges Haar und kluge, freundliche Augen. Dr. Mathes blickte etwas glasig um sich. Ein rotblonder Schnurrbart hing ihm in feuchten Fransen auf die Oberlippe. Er war Assistent an einem Berliner Krankenhaus gewesen — wie dem undeutlich-sonoren Bericht zu entnehmen war, den die Proskauer der Schwalbe ins Ohr summte. »Unerhört tüchtiger Mensch«, soviel ließ sich aus ihren Worten erraten, » . . . habe ihn erst während der letzten Wochen so richtig schätzen gelernt . . . Hat sich nur unter dem Zwang der Umstände zur Emigration entschlossen . . . Sehr ernst . . . wirklich sehr zuverlässig . . .« — Was den Theo Hummler betraf, so war er in sozialdemokratischen Arbeiter-Bildungs-Organisationen tätig gewesen. »Ein marxistisch geschulter Kopf«, raunte die Proskauer, wozu Frau Schwalbe nickte.
Auf dem Wege vom »Dôme« zum »Select« ließen die drei aus Berlin neu Eingetroffenen schon die ersten Schreckens-Nachrichten hören. »Sie haben Betty verhaftet«, murmelte die Proskauer, und der Mann vom Volksbildungs-Wesen ergänzte: »Vorgestern abend, ich hatte sie ein paar Stunden vorher noch gesehen — der reine Zufall, daß sie mich nicht auch wieder erwischt haben!« — »Sind Sie denn auch emprisonniert gewesen?« erkundigte sich Marcel. Theo Hummler nickte: »Gleich in den ersten Tagen. Aber sie haben mich bald wieder rausgelassen, ich hatte Glück.« — »Hat man Sie . . .? « Marcel fragte es mit Angst in der Stimme. Da er das deutsche Wort nicht gleich finden konnte, deutete er pantomimisch das Prügeln an. »Ob man mich geprügelt hat?« Hummler lachte kurz und grimmig durch die Nase. »Das vergessen die niemals. — Aber es ist mir weniger schlimm gegangen als vielen von den Genossen.«
Doktor Mathes sagte, wobei er sich mit einer gewissen Schärfe an Dora wandte: »Übrigens ist es notorisch, daß man uns Sozialdemokraten mit noch mehr Grausamkeit behandelt als die Kommunisten. Die Nazis wissen genau, wer ihre gefährlichsten Feinde sind.« — Die Proskauer schüttelte ernst den Kopf. »Ich habe in Straßburg junge Kommunisten gesehen — die waren zugerichtet: grauenvoll. Schlimmer kann kein Sozialdemokrat aussehen, der aus den Kellern der Gestapo kommt.«
Theo Hummler, dem der Gegenstand peinlich zu sein schien, wußte noch zu erzählen: »Und den Willi haben sie auch gekriegt — du weißt doch: den kleinen Dicken, der auf unserer letzten Versammlung das Hauptreferat hatte . . .«
Sie waren vor der Terrasse des »Select« angekommen. Der junge Arzt mit dem rötlichen, feuchten Schnurrbart zog Dora zur Seite. »Mit wem treffen wir uns da eigentlich?« fragte er mißtrauisch. »Wenn es feine Leute sind, gehe ich lieber nicht mit. Ich sehe unerlaubt schäbig aus . . .« Auch der Volksbildungs-Mann hatte Bedenken: »In diesen Montparnasse-Cafés sollen besonders viel Spitzel sein. Man sagt, sie geben einem zu trinken und versuchen dann rauszukriegen, was für Beziehungen man nach Deutschland hat.« Die Proskauer bekam etwas unruhige Augen, die ängstlich an der Nase vorbeiblickten. »Ich weiß wirklich nicht . . .«, murmelte sie. »Es sind Freunde der Kameradin Schwalbe . . .« Nun mischte diese sich ins Gespräch, während David Deutsch und Marcel schon langsam die Terrasse betraten, auf der alle Tische dicht besetzt waren. — »Seid doch nicht übertrieben vorsichtig!« riet die Alte. »Ich kenne fast die ganze Bande da drinnen — und den Freunden meiner Freunde mißtraue ich nie!« — »Na ja«, entschied Hummler, nachdem er sich mit dem Doktor durch Blicke, Achselzucken und Kopfschütteln nicht sehr taktvoll verständigt hatte. »Machen wir also mit! Man will kein Spielverderber sein!« — Die Schwalbe erklärte noch: »Es ist wohl so ein alter Berliner Bankier dabei, ein Freund vom Maler Samuel. Das scheint so einer, der gerne für einen ganzen Haufen von Leuten die Rechnung bezahlt.« — »Ist ja ganz angenehm!« rief Hummler, durch diese Mitteilung besserer Laune gemacht. Er und Doktor Mathes ließen herzliches Gelächter hören, die Schwalben-Wirtin stimmte dröhnend ein, auch die Proskauer hatte ein dunkel plätscherndes kleines Lachen. Theo Hummler wunderte sich selbst: »Daß man bei den Zeiten noch vergnügt sein kann!« Dabei hatten sie den Tisch erreicht, an dem Bankier Siegfried Bernheim präsidierte.
Professor Samuel schien die Unterhaltung zu beherrschen; als die Schwalbe mit ihren Freunden zur Gesellschaft stieß, ließ er eben seinen prachtvollen Baß hören: »Gewiß, jeder von uns hat viel aufgeben müssen. Ich hatte gerade Schluß gemacht mit dem Vagabundenleben — reichlich spät, wie manche meiner Freunde fanden —, und war wohlbestallter Professor in Berlin geworden, mit festem Einkommen, einem hübschen Atelier in Dahlem und nur noch ganz geringfügigen Schulden. Ein ruhiger Lebensabend war mir aber wohl nicht beschieden. Da sitze ich wieder, wie vor vierzig Jahren —: unbeschwert. Mein Besitz ist ein Handkoffer, enthaltend zehn französische und fünf deutsche Bücher, einen Flanellanzug, einen ungebügelten Smoking, eine Zahnbürste, einen Skizzenblock, zwölf Bleistifte und ein paar Tuben Farbe. So zog ich schon vor vierzig Jahren durch die Welt. Und inzwischen . . .« — er senkte sein großes, erfahrenes, altes Haupt; seine Stimme dämpfte sich düster —, »und inzwischen hat man sein Lebenswerk geschaffen.« Dann sprang er auf, um die Schwalbe und ihre Begleitung mit Herrn Bernheim bekannt zu machen.
Der reiche Mann sagte: »Herzlich willkommen an meinem Tisch!« Er hatte immer noch die salbungsvoll-gastliche Allüre, mit der er, so viele Jahre lang, seine Gäste — Politiker und Financiers, Chefredakteure und Schauspielerinnen, Prinzen, Musiker und Poeten — am Portal seiner Grunewald-Villa in Empfang genommen und begrüßt hatte. »Recht herzlich willkommen!« wiederholte er mit etwas öliger Stimme, und schüttelte der Schwalbe beide Hände. »Ich habe viel von Ihnen gehört!« — Sein Gesicht war alt-testamentarisch würdevoll, mit großer, fleischiger, ziemlich platter Nase, und einem breiten, rund geschnittenen Vollbart, der früher rot gewesen sein mochte und jetzt eine merkwürdig rosa-graue Färbung zeigte. Siegfried Bernheim schien die Stattlichkeit in Person; stattlicher und imposanter als er konnte ein Mensch überhaupt nicht sein. Alles an ihm atmete eine gesunde, fröhlich-ernste Selbstzufriedenheit, die jedoch weit davon entfernt war, in einen lächerlichen Dünkel auszuarten. Ihm ließ sich ansehen, daß auch der Schicksalsschlag, der ihn nun betroffen hatte — der Verlust von Haus und Heimat: