Der Vulkan. Roman unter Emigranten. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726482348
Скачать книгу
nun schrien sie ihm: Judensau! zu. Sie waren allerdings besoffen, als sie das taten; aber die Gemeinheit bleibt trotzdem unbegreiflich. — Ich weiß gar nicht, woher mein Freund den Revolver hatte. Und wieso konnte er eigentlich schießen?« Helmut Kündinger fragte entsetzt und dringlich, als ob Martin imstande wäre, ihm Antwort zu geben. »Er hat sich mitten ins Herz getroffen. Für mich hinterließ er nur einen Zettel: ›Ich will Dir nicht länger zur Last fallen.‹ So bitter war er zum Schluß geworden.« Helmut verstummte. Seine blauen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Martin wollte gerne irgend etwas Tröstliches äußern; es fiel ihm aber nichts ein. Der junge Mensch preßte sich ein großes, nicht ganz sauberes Taschentuch vor den Mund, wie um einen Schrei zu ersticken. In das Taschentuch hinein sprach er — man konnte seine Worte kaum noch verstehen —: »Seitdem das geschehen ist, kam mir in Göttingen alles so beschmutzt vor . . . Ich konnte es gar nicht mehr aushalten. Und als ich zu meinen Eltern nach Westfalen fuhr, war es dort auch nicht besser. Die Heimat war mir verleidet. Ich mußte weg — ich mußte einfach weg . . . Verstehen Sie mich doch bitte!«

      »Ich verstehe Sie«, sagte Martin. —

      Die Schwalbe begrüßte mit großem Hallo, Kuß und Umarmung ein blondes junges Mädchen, das eiligen Schrittes vorüberkam. »Meisje!« jubelte die Alte. »Bist du auch hier! Nein, so was!« — Meisje war Stammgast bei der Schwalbe gewesen: »das prachtvollste Geschöpf, das ich je gekannt habe!« — wie die Wirtin dem ganzen Kreise enthusiastisch versicherte. Wirklich sah sie sehr prachtvoll aus, mit ährenfarbenem Haar und hellen Augen, die sowohl sanft als entschlossen blickten. Bankier Bernheim schmunzelte; die Herren Mathes und Hummler schienen gleich Feuer und Flamme. Ilse Ill, mit der beide bis zu diesem Moment in bescheidenen Grenzen geflirtet hatten, saß plötzlich unbeachtet mit ihrer Reitpeitsche und ihrem zu bunten Gesicht. Sie ließ sich gehen, stützte die Stirn in die Hände und sah müde aus. Es fiel auch auf, daß ihr Abendkleid recht aus der Mode und stellenweise zerschlissen war. Wahrscheinlich trug sie es nur, weil sie durchaus nichts anderes anzuziehen hatte. Durch die Reitpeitsche hoffte sie wohl, ihrem reduzierten Aufzug eine flotte, exzentrische Note zu geben.

      Der einsame Schachspieler am Nebentisch erhob sich und schob die Figuren weg, wobei er noch einmal den erloschenen Blick über die Gesellschaft hinschickte.

      Professor Samuel, der mehrere Gläser Pernod Fils getrunken hatte, bemerkte schwermütig: »Ach, meine Freunde — was steht uns bevor? Was beginnt nun? Welche Überraschungen hat das Schicksal noch für uns bereitet?« Seine alten Augen, deren Lider sich leicht entzündet hatten, spähten angestrengt ins Weite und Ferne, als könnten sie dort erkennen, was den anderen noch verborgen blieb.

      »Nanu«, sagte Doktor Mathes, »das klingt ja ganz melodramatisch!«

      — Und Bernheim, der die Rechnung studierte, bemerkte zerstreut: »Es wird schon irgendwie gehen . . .«: niemand wußte, ob er auf die bevorstehenden Schicksals-Fügungen anspielte, oder ob er nur sagen wollte, daß er genug Geld bei sich habe, um die Rechnung zu begleichen, die er übrigens erstaunlich hoch fand. Bobby Sedelmayer, mit einer Heiterkeit, die ein wenig künstlich klang, fügte hinzu: »Dann also Prost!« — wobei er sein Glas hob. Aber niemand tat ihm Bescheid. Die meisten hatten wohl schon ausgetrunken.

      Während der Kreis sich langsam auflöste, rief Fräulein Sirowitsch beinah flehend: »Ich wünsche mir, daß wir alle recht bald wieder hier zusammenkommen!« Sie lächelte Nathan-Morelli zu, der mit David Deutsch über englische Lyriker sprach und sie nicht beachtete. Die Schopenhauer-Übersetzerin sagte noch mit einem unheimlich kalten Jubel in der Stimme — vielleicht nur, um Nathan-Morellis Aufmerksamkeit doch noch auf sich zu ziehen —: »Ist Paris nicht schön? Nur hier kann ich mich so recht eigentlich wohlfühlen!« Niemand antwortete. Theo Hummler sprach verschwörerisch leise zur Schwalbe: »Morgen vormittag treffe ich ein paar sehr wichtige Leute aus Berlin, zuverlässige Kameraden. Wollen Sie auch dabeisein?«

      Martin trat zu Kikjou, der als einziger am Tisch sitzengeblieben war, merkwürdig regungslos vor seinem geleerten Glase. »In welchem Quartier wohnen Sie?« fragte Martin, und er fügte mit einer etwas matten Hoffnung hinzu: »Vielleicht haben wir den gleichen Heimweg . . .« — Kikjou aber erwiderte, ohne das müde, kindliche Gesicht von den Händen zu heben: »Merci mille fois. Ich begleite Marcel.« — Martin zog sich schweigend zurück. Er trat erhobenen Hauptes, die weichen Lippen pikiert gegeneinander gepreßt, auf den Boulevard hinaus, wie einer, der sich bewußt ist, eine Niederlage erlitten zu haben, aber seinen Stolz dareinsetzt, sie mit Würde zu tragen.

      Plötzlich stand Marcel hinter Kikjou; auf leisen Sohlen war er herangekommen. »Comment vas-tu, mon choux?« fragte er, und legte beide Hände auf Kikjous Schultern. Der erwiderte, ohne sich umzudrehen: »Merci, mon vieux. Pas mal tout.«

      »Ich muß Marion nach Hause bringen«, erklärte Marcel, mit einer leichten Wendung des Hauptes zu der schlanken, unruhig sich bewegenden Gestalt hin, die auf dem Boulevard seiner wartete.

      »Ach so«, sagte Kikjou. »Dann gehe ich also allein.«

      »I am sorry, mon vieux«, sagte Marcel, immer noch mit den Händen auf Kikjous Schultern. Nach einer Pause fügte er hinzu:

      »Es ist so traurig. Alles ist so traurig. Diese Menschen — wie sie mir leidtun! . . . Es muß sich ungeheuer viel ändern auf der Welt, damit sie nicht mehr ganz so bemitleidenswert sind. — Tun sie dir auch so leid? — Listen, Kikjou, I am asking you something! — Ich habe dich gefragt, ob die Menschen dir auch so leid tun wie mir.«

      ZWEITES KAPITEL

      Am nächsten Morgen besuchte Marion ihre alte Freundin Anna Nikolajewna Rubinstein, die draußen in Montrouge eine Zwei-Zimmerwohnung mit ihrem Gatten und ihrer halberwachsenen Tochter hatte. Die Tochter arbeitete in einem Modesalon; der Mann war in einem großen Verlagshaus angestellt, wo seine Beschäftigung fast ausschließlich darin bestand, Adressen zu schreiben und zu sortieren. Er hatte es, während der zehn Jahre, die er in Paris lebte, noch nicht gelernt, fließend und akzentlos Französisch zu sprechen. In Moskau war er der Herausgeber einer gemäßigt-liberalen Revue gewesen. Die Kerenski-Revolution hatte er freudig begrüßt, und einige Wochen nach der Oktober-Revolution war er in die Emigration gegangen, ganz ohne Geld, mit ein paar Krawattennadeln und Ringen als einzigem Besitz. In Berlin hatte er Anna Nikolajewna kennengelernt. Sie war Malerin und dekorierte nun Teetassen, Blumenvasen und Fächer mit bescheidenen Blumenstilleben, bunt gefiederten Vögeln und kleinen Barockengeln. Zuweilen fand sie Käufer für ihre liebliche Ware.

      Marion war bei ihrem ersten Pariser Besuch, im Jahre 1928, durch gemeinsame Berliner Freunde mit Madame Rubinstein bekanntgeworden. Anna Nikolajewna hatte der jungen Deutschen Paris gezeigt. Marion liebte die russische Dame, und sie hatte immer die Tapferkeit bewundert, mit der die Verwöhnte — denn Anna stammte aus reichem Hause — Not und Erniedrigung des Exils ertrug. Niemals hatte Marion ein Wort der Klage von Anna Nikolajewna gehört. »Man muß zufrieden sein«, pflegte sie mit ihrer weichen, singenden Stimme zu sagen. »Man muß sogar dankbar sein. Wir haben alle zu tun: la petite Germaine, mon pauvre Léon et moimême . . .« Marion wußte genau, wie miserabel sie für ihre verschiedenartigen Arbeiten bezahlt wurden. Übrigens hatten alle drei immer Heimweh. Es gelang ihnen nicht, sich einzuleben im fremden Paris. Sie verkehrten beinah nur mit Russen, lasen fast nur russische Zeitungen und Bücher. Sonderbarerweise litt an dieser Heimwehkrankheit sogar die junge Germaine, die doch ein ganz kleines Kind gewesen war, als ihre Mutter Rußland verließ. Sie stammte aus einer ersten Ehe Anna Nikolajewnas; der Vater war im Bürgerkrieg gefallen, auf der Seite der Weißen . . .

      Madame Rubinstein konnte nicht älter als fünfundvierzig Jahre sein; sie sah aus wie eine Sechzig jährige. Ihr Haar war schlohweiß, ihr gescheites sanftes Gesicht von vielen Falten durchzogen. Sie trug sich immer in Schwarz. »Ich muß Trauer um Rußland tragen«, hatte sie einmal mit geheimnisvollem Lächeln zu Marion gesagt, die etwas schaurig davon berührt gewesen war. Manche der Kleidungsstücke, die Anna Nikolajewna besaß, stammten noch aus der Zeit vor dem Kriege — wunderliche Pelzmantillen, Spitzen-Jabots, kleine runde Muffs, allerlei überraschende Kopfbedeckungen aus Pelz: St. Petersburger Mode aus dem Jahre 1913 . . .

      Marion freute sich darauf, ihre alte Freundin wieder zu sehen; aber sie wurde ein sonderbar bedrücktes Gefühl