Der Vulkan. Roman unter Emigranten. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726482348
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de Janeiro, teils in Lausanne und auf dem Lande in Belgien. Der Vater, in Brasilien ansässig, war Chef einer großen Firma und wollte den Sohn dazu zwingen, ins Geschäft einzutreten. Da Kikjou darauf bestand, in Paris zu sein und Gedichte zu machen, statt sich vernünftig zu beschäftigen, grollte der Vater und schickte kein Geld. »Oft ist die Kasse leer«, sagte Kikjou und lächelte betrübt. Manchmal reiste er zu einem Onkel nach Belgien. Der bewohnte ein altes Haus auf dem Lande; Martin bekam den Eindruck, daß es sich um einen etwas wunderlichen alten Herrn handelte; aber Kikjou fand ihn bedeutend. »Onkel Benjamin ist ein gläubiger Katholik«, erklärte er und strahlte Martin aus den vielfarbig schimmernden Augen an. Der Onkel umgab sich mit Heiligenbildern, Reliquien, geweihten Kerzen und lateinischen Büchern. »Er hat seine eigene kleine Kapelle«, berichtete Kikjou stolz. «Ich fühle mich wohl bei ihm; wenn ich nicht fürchten müßte, ihn zu stören, wäre ich immer dort.« Sein Blick schien benommen; es war vielleicht nur die Wirkung des Weines, vielleicht hing es aber auch mit dem Gedanken an Weihrauchduft und mildes Halbdunkel in Onkel Benjamins Kapelle zusammen. »Manchmal hat er auch Visionen«, sagte der Neffe noch, und in seinen Augen war der Glanz beunruhigend. »Engel suchen ihn auf. Er erzählt, daß es immer so ein metallisch klirrendes Geräusch gibt, wenn sie in seine Stube treten. Das kommt von ihren Flügeln, die beständig in Bewegung sind; es ist wie ein nervöser Tick, sagt Onkel Benjamin, aber dabei sehr großartig. Sie müssen immer ihre großen Flügel regen, als kämen sie sonst aus der Übung und würden das Fliegen verlernen; es verhält sich wohl so ähnlich wie bei Rekordschwimmern oder Radfahrern, die auch gleich aus der Form kämen, wenn sie nicht immer trainierten. Ich hätte so gerne einmal einen Engel gesehen. Aber sie zeigen sich nur, wenn niemand im Haus ist außer Onkel Benjamin und der alten Magd. Sogar ich, obwohl ich doch an sie glaube, scheine sie zu vertreiben. Das ist auch der eigentliche Grund, warum ich nie lange beim Onkel bleibe. Er müßte das Gefühl bekommen, daß ich ihm die liebsten Gäste verscheuche. Das wäre mir natürlich sehr unangenehm. Außerdem kränkt mich das Verhalten der Engel ein wenig; ich finde es gar zu spröde.« Nachdem er dies alles geäußert hatte, legte er ruhig seine Serviette zusammen und schlug vor: »Unseren Kaffee trinken wir besser woanders. Er ist hier nicht besonders gut.«

      Sie saßen im Café »Flore« am Boulevard St. Germain. Nun sprachen sie auch über Politik. »Sie sind vor den Nazis geflohen?« fragte Kikjou. »Ich mag sie auch nicht. Neulich habe ich lange mit meinem frommen Onkel über sie gesprochen — er ist ein so kluger Mann. Der deutsche Führer, sagt er, ist vom Teufel geschickt; der leibhaftige Antichrist. In so großer Gefahr wie jetzt, sagt Onkel Benjamin, ist die Christenheit seit ihrem Bestehen noch nicht gewesen. Das Rassen-Dogma bedroht die Grundlagen unseres Glaubens, die Germanen kommen aus den Urwäldern, um die Christliche Kultur zu zerstören, und sind fürchterlicher, als die Hunnen und Türken es waren . . .«

      Sie redeten lange. Aber zwischen ihnen waren die Worte nicht mehr das Entscheidende. Ihre Blicke führten eine andere Sprache.

      Der kleine Helmut Kündinger kam vorbei und schaute sie traurig an. »Gefällt es Ihnen in Paris?« erkundigte er sich bei Martin auf seine korrekte und schüchterne Art. »Es ist eine herrliche Stadt. Ich bin den ganzen Tag spazieren gegangen und war auch lange im Louvre. Aber ich mußte immer an meinen Freund denken, der dies alles so genossen hätte . . .« Da man ihn nicht dazu aufforderte, sich an den Tisch zu setzen, wünschte er schmerzlich einen guten Abend und ging langsam weiter.

      Gegen Mitternacht sagte Martin: »Wir könnten noch ein bißchen in mein Hotel gehen. Es ist zwei Minuten von hier. Mir scheint, ich habe sogar noch ein bißchen Whisky . . .«

      Auf der Treppe, im Hotel »National«, begegnete ihnen Marion.

      »Weißt du schon das Neueste?« sagte sie zu Martin. »Meine Mama und Tilly sind heute in Zürich angekommen.«

      »Nein, sowas!« sagte Martin. »Wie muß es in Deutschland aussehen, wenn sogar Frau von Kammer es nicht mehr erträgt? — Willst du noch einen Schnaps mit uns trinken, Marion?«

      »Danke«, sagte Marion. »Ich falle um vor Müdigkeit. Unterhaltet euch gut! Viel Vergnügen!«

      Frau Geheimrat Marie-Luise von Kammer hatte mit ihren beiden jüngeren Töchtern, Tilly und Susanne, am 16. April 1933 die deutsche Heimat verlassen: kaum zwei Wochen nachdem ihr ältestes Kind, Marion, nach Paris in die Emigration gegangen war. Frau von Kammer — plötzlich vor die Wahl gestellt, in welchem Lande sie am liebsten wohnen wolle — entschied sich, nach nur kurzem Schwanken, für die Schweiz, wo sie mit ihrem Gatten beinah jedes Jahr die Ferienwochen zugebracht hatte. In der Schweiz wiederum kamen vor allem das Tessin, das Engadin oder Zürich in Frage. Frau von Kammer behauptete, daß sie persönlich einen stillen, ländlichen Platz, etwa Ascona oder Sils Maria, vorziehen würde: »denn ich habe genug von der Welt«, sagte sie in ihrer sonderbar konventionellen, starren Manier, die selbst noch der aufrichtigsten, spontansten Äußerung einen floskelhaft rhetorischen Charakter gab. »Aus Rücksicht auf ihre Töchter«, entschloß sich die Geheimratswitwe dazu, vorläufig in der größeren Stadt, in Zürich, Wohnung zu nehmen. »Ich will, daß meine Mädels von der Gesellschaft empfangen werden«, sagte sie — und es klang, als gäbe es in Zürich einen Kaiserlichen Hof, dessen Zierde die jungen Damen von Kammer nun ausmachen sollten.

      Wenn sie, in solchem Zusammenhang, von »meinen Mädels« sprach, machte sie sich einer Übertreibung schuldig, denn wirklich konnte es sich nur um Tilly, die Neunzehnjährige, handeln. Susanne war erst dreizehn Jahre alt und sollte in einem Schweizer Pensionat »für junge Mädchen aus ersten Familien« untergebracht werden. Das Institut war entschieden zu teuer für die finanziellen Verhältnisse der Geheimrätin. »Aber es muß eben reichen!« erklärte die Mutter, fanatisch in ihrer Zärtlichkeit zu dem hochaufgeschossenen, etwas mürrischen Backfisch, wie in ihrem unbedingten Entschluß, sich sozial nicht degradieren zu lassen.

      Marion blieb in Paris. Einige Tage nach ihrer Ankunft in Zürich hatte die Mutter, »mit Voranmeldung für Mademoiselle von Kammer«, das Hotel »National«, Paris, rue Jacob, angerufen. »Ich bin froh, deine Stimme zu hören, mein Kind!« sagte sie, und der Klang ihrer Worte war wärmer und belebter als meistens. — »Wie geht es dir denn, Mama?« fragte Marion, glücklich über die ungewohnt einfache, herzliche Art der Mutter. — »Danke, mein Kind: leidlich gut.« Nun hatte sie schon wieder jene damenhafte Verbindlichkeit, unter der Marion heftiger litt als andere Töchter unter den Wutausbrüchen ihrer Mütter. — »Du weißt ja: das Züricher Klima ist eine Wohltat für meine Nerven — natürlich nur so lange es keinen Föhn gibt . . .« Sie redete, als wäre sie soeben in Baden-Baden oder Bad Gastein eingetroffen und berichtete nun einer entfernten Bekannten über die ersten Erfolge der Kur. Es war der Ehrgeiz der Frau von Kammer, Haltung zu bewahren, auch der Tochter gegenüber —: Haltung um jeden Preis, den Verhältnissen zum Trotz, malgré tout, geschehe, was auch immer.

      Das Telephongespräch zwischen Paris und Zürich dauerte nicht sehr lange. Mama berichtete noch, daß sie, mit Tilly und der kleinen Susanne, vorläufig in einem sehr hübschen Hotel am See abgestiegen sei. »Sehr soigniert«, sagte sie anerkennend. »Die Bedienung — tip-top! Aber es ist natürlich nur provisorisch. Auf die Dauer könnte man sich das nicht leisten.«

      »Es ist schrecklich traurig«, sagte Marion, nachdem sie eingehängt hatte, zu Martin Korella, der gerade bei ihr im Zimmer war. »Sie kann es einfach nicht zeigen, wie nett sie ist. Hinter ihrer blöden ›feinen‹ Art versteckt sich ihre ganze große Nettigkeit.« Marion sah bekümmert aus. Mit ihren schönen und langen Fingern — den kraftvoll trainierten Fingern einer Pianistin, mußte Martin denken; oder, nein: eigentlich einer Bildhauerin — zerdrückte sie im Aschenbecher eine Zigarette, die sie gerade erst angeraucht hatte. Dabei stieß sie den Aschenbecher — es war eine jener häßlichen, weißen kleinen Schalen, mit dem Reklame-Aufdruck der »Galeries Lafayette« — vom Tisch; mit zornig verfinsterten Augen schaute sie auf Zigarettenstummel und Asche, die nun den Teppich verunzierten. »Dabei ist sie nämlich wirklich ganz besonders nett«, behauptete sie mit einer tiefen, grollenden Stimme und schüttelte — einer gereizten Löwin ähnlich — die lockere Fülle ihres rot-braunen, purpurn schimmernden Haares. — »Zum Beispiel war es doch ganz großartig von ihr, wie sie sich während dieser letzten Wochen benommen hat«, sagte Marion noch, trotzig und aufgebracht, als hätte jemand ihr widersprochen — während Martin doch