Am Ende sterben wir sowieso. Adam Silvera. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Adam Silvera
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801191
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ihren coolen Vater erzählen können und sie zu mir nach Hause einladen, sobald ich finanziell abgesichert und emotional in der Lage dazu gewesen wäre. Jetzt werde ich aus ihrem Leben gerissen, bevor ich mehr bin als irgendein Typ in einem Fotoalbum, über den Lidia Geschichten erzählt, bei denen Penny mit dem Kopf nickt und sich vielleicht über meine Brille lustig macht, aber dann schnell die Seite umblättert, um zu Familienmitgliedern zu kommen, die sie wirklich kennt und die ihr wichtig sind. Ich werde für sie nicht einmal ein Geist sein. Aber das ist kein Grund, sie nicht noch ein letztes Mal zu kitzeln, ihr Kürbis oder Erbsen aus dem Gesicht zu wischen oder Lidia eine kurze Pause zu verschaffen, damit sie für ihren Schulabschluss lernen, sich die Zähne putzen, die Haare kämmen oder ein wenig schlafen kann.

      Anschließend werde ich mich irgendwie von meiner besten Freundin und ihrer Tochter losreißen und gezwungenermaßen endlich leben.

      Ich stelle das Wasser ab und es prasselt nicht mehr länger auf mich herunter. Heute ist kein Tag für stundenlanges Duschen. Ich nehme meine Brille vom Waschbecken und setze sie auf. Dann steige ich aus der Wanne und rutsche in einer Pfütze aus. Während ich nach hinten falle, warte ich schon darauf, zu erfahren, ob es tatsächlich stimmt, dass das ganze Leben noch einmal an einem vorbeizieht. Doch dann bekomme ich die Handtuchstange zu fassen und kann mich festhalten. Ich atme ein paarmal tief durch, denn ausgerechnet so zu sterben wäre ein extrem unglücklicher Abgang. Irgendjemand würde mich auf die Liste »K.o. in der Dusche« setzen – auf dem Blog Törichte Todesfälle, eine viel besuchte Seite, die ich aus den unterschiedlichsten Gründen widerlich finde.

      Ich muss hier raus und leben – aber zuerst muss ich es heil aus der Wohnung schaffen.

      00:56 Uhr

      Ich schreibe Dankesnachrichten an meine Nachbarn aus den Wohnungen 4F und 4A und teile ihnen mit, dass heute mein Abschiedstag ist. Seit Dad im Krankenhaus ist, hat Elliot aus 4F immer wieder nach mir gesehen und mir Abendessen herübergebracht, vor allem nachdem letzte Woche unser Gasherd kaputtgegangen ist, als ich versucht habe, Dads Empanada-Rezept nachzukochen. Sean aus 4A wollte am Samstag vorbeikommen, um den Brenner zu reparieren, aber das ist jetzt nicht mehr nötig. Dad weiß, wie man das macht, und kann die Ablenkung vielleicht ganz gut gebrauchen, wenn ich nicht mehr da bin.

      Ich gehe zum Schrank, hole das blaugraue Flanellhemd heraus, das Lidia mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hat, und ziehe es über mein weißes T-Shirt. Ich habe es bisher noch nicht draußen angehabt. In diesem Hemd werde ich Lidia heute den ganzen Tag über nahe sein.

      Ich schaue auf die Uhr – Dads alte, die er mir geschenkt hat, nachdem er sich wegen seiner schlechten Augen eine Digitaluhr mit Leuchtziffern gekauft hat. Es ist fast ein Uhr nachts. An einem gewöhnlichen Tag hätte ich noch bis früh am Morgen Videospiele gespielt, auch wenn ich in der Schule dann immer todmüde war. Wenigstens konnte ich in den Freistunden schlafen. Ich hätte diese Stunden nicht einfach absitzen, sondern mich stattdessen noch für ein anderes Fach einschreiben sollen, für Kunst zum Beispiel, auch wenn ich durch Zeichnen nicht mein Leben retten kann. (Und auch durch sonst nichts, logisch, und ich würde gern sagen, dass das völlig egal ist, aber im Grunde ist es das Einzige, was zählt.) Vielleicht hätte ich im Orchester Klavier spielen und dort erstes Lob ernten können, um später dann im Chor zu singen oder ein Duett mit irgendjemand Coolem, und am Ende hätte ich mich vielleicht an ein Solo gewagt. Mensch, sogar Theater hätte mir Spaß machen können, mit einer Rolle, die mich gezwungen hätte, aus mir herauszugehen. Aber nein, ich entschied mich für eine weitere Freistunde, in der ich abschalten und ein Nickerchen machen konnte.

      Es ist 00:58 Uhr. Sobald es eins ist, werde ich mich dazu zwingen, die Wohnung zu verlassen. Sie war immer mein Zufluchtsort und gleichzeitig mein Gefängnis, aber jetzt muss ich endlich mal die Luft dort draußen einatmen, statt nur hindurchzujagen, um von A nach B zu kommen. Ich muss Bäume zählen und vielleicht ein Lieblingslied singen, während ich die Füße in den Hudson tauche – einfach alles dafür tun, dass ich als der junge Mann in Erinnerung bleibe, der viel zu früh gestorben ist.

      Es ist 01:00 Uhr.

      Unfassbar, dass ich nie wieder in mein Zimmer zurückkehren werde.

      Ich drehe den Schlüssel im Schloss, packe den Knauf und ziehe die Wohnungstür auf.

      Dann schüttele ich den Kopf und knalle die Tür wieder zu.

      Ich werde nicht in eine Welt hinausgehen, die mich vorzeitig töten wird.

      RUFUS EMETERIO

      01:05 Uhr

      Der Todesbote meldet sich, als ich gerade dabei bin, den neuen Freund meiner Ex halb totzuprügeln. Ich hocke auf dem Kerl und drücke ihm mit den Knien die Schultern auf den Boden. Der einzige Grund, warum ich ihm nicht noch eine aufs Auge verpasse, ist das Läuten aus meiner Tasche, dieser laute Klingelton des Todesboten, den alle nur zu gut kennen: aus eigener Erfahrung, aus den Nachrichten oder irgendeiner miesen Fernsehserie, die diesen Alarmton nutzt, um es – ta-ta-ta-taa – spannender zu machen. Meine Kumpels Tagoe und Malcolm haben aufgehört, mich anzufeuern. Sie sind totenstill geworden, und ich warte darauf, dass das Handy von Peck, diesem Dreckskerl, ebenfalls loslegt. Aber seins klingelt nicht, nur meins. Vielleicht hat der Anruf, der mir verkünden wird, dass ich heute mein Leben verliere, gerade seins gerettet.

      »Los, geh schon ran, Roof!« Tagoe hat die Schlägerei gefilmt, weil Kämpfe im Netz anzugucken voll sein Ding ist. Aber jetzt starrt er sein Handy an, als ob er Angst hätte, seins könnte auch gleich klingeln.

      »Scheiß drauf«, sage ich. Mein Herz hämmert rasend schnell, noch schneller als bei meinem ersten Angriff auf Peck, dem Schlag, der ihn umgehauen hat. Pecks linkes Auge ist schon total zugeschwollen und sein rechtes voller Angst. Die Anrufe des Todesboten kommen bis um drei. Er kann nicht sicher sein, ob ich ihn nicht noch mitnehmen werde.

      Ich selbst auch nicht.

      Mein Handy hört auf zu klingeln.

      »Vielleicht wars ein Irrtum«, sagt Malcolm.

      Mein Handy klingelt erneut.

      Malcolm hält den Mund.

      Ich habe mir keine Hoffnungen gemacht. Ich kenne zwar keine Zahlen und solches Zeug, aber ich hab noch nie davon gehört, dass der Todesbote das mit dem Anruf vermasselt hätte. Und wir Emeterios waren auch nie besonders erfolgreich darin, am Leben zu bleiben. Wenn es darum geht, unserem Schöpfer deutlich vor der Zeit entgegenzutreten, sind wir dabei.

      Ich zittere und mein Kopf brummt vor Panik, als würde mich jemand andauernd boxen. Ich hab keine Ahnung, wie ich abtreten werde, nur dass es heute ansteht, ist klar. Und mein Leben zieht nicht an mir vorbei, womit ich auch später nicht rechnen werde, wenn ich dann tatsächlich am Abkratzen bin.

      Peck windet sich unter mir und ich hebe die Faust, damit er verdammt noch mal stillhält.

      »Vielleicht hat er ’ne Waffe dabei«, sagt Malcolm. Er ist der Riese in unserer Gruppe, der Typ, der uns damals gefehlt hat, als meine Schwester den Sicherheitsgurt nicht aufbekam, während unser Auto im Hudson versank.

      Vor dem Anruf hätte ich sonst was drauf gewettet, dass Peck keine Waffe dabeihat, weil es schließlich wir waren, die ihn auf dem Weg von der Arbeit überfallen haben. Aber mein Leben verwette ich sicher nicht darauf, jetzt nicht mehr. Ich lasse mein Handy fallen. Dann taste ich Peck ab, drehe ihn auf den Bauch und suche seinen Hosenbund nach einem Taschenmesser ab. Ich stehe auf und er bleibt liegen.

      Malcolm zerrt Pecks Rucksack unter dem blauen Auto hervor, wo Tagoe ihn hingeschleudert hat. Er zieht den Reißverschluss auf und dreht den Rucksack um. Ein paar Black Panther- und Hawkeye-Comics fallen raus. »Nichts.«

      Tagoe stürzt sich auf Peck, und ich könnte schwören, gleich tritt er gegen seinen Kopf, als wärs ein Fußball, aber er hebt nur mein Handy auf und geht ran. »Wen wollen Sie sprechen?« Niemand überrascht das Zucken in seinem Nacken. »Moment, Moment. Das bin ich nicht. Moment. Warten Sie kurz.« Er hält mir das Handy hin. »Soll ich auflegen, Roof?«

      Ich weiß es nicht. Vor mir liegt Peck immer noch blutig und blau