Auf Countdown posten die Leute Beiträge darüber, wie sie ihren letzten Tag verbringen, und zwar über alles, angefangen bei ihrem Anruf. Es ist sozusagen Twitter für Todgeweihte. Ich habe unzählige Einträge gelesen, in denen Leute angeben, dass sie ihre Boten gefragt haben, auf welche Weise sie sterben werden. Dabei ist allgemein bekannt, dass niemand Zugang zu diesen Informationen bekommt, nicht einmal der ehemalige Präsident Reynolds, der vor vier Jahren versucht hat, sich in einem unterirdischen Bunker vor dem Tod zu verstecken, und dann von einem seiner eigenen Geheimdienstleute ermordet wurde. Der Todesbote kann einem nur das Datum mitteilen, an dem man stirbt, aber nicht die genaue Uhrzeit oder wie es passieren wird.
»… Haben Sie all das verstanden?«
»Ja.«
»Loggen Sie sich auf Todesbote.com ein und füllen Sie das Formular aus mit den Wünschen für Ihre Beerdigung und der Inschrift, die Sie gern auf Ihrem Grabstein hätten. Oder vielleicht möchten Sie auch lieber eingeäschert werden? In diesem Fall …«
Ich bin in meinem Leben erst einmal bei einer Beerdigung gewesen. Meine Großmutter starb, als ich sieben war, und auf ihrer Trauerfeier bekam ich einen Tobsuchtsanfall, weil sie einfach nicht mehr aufwachte. Fünf Jahre später wurde der Todesbote eingeführt, und plötzlich waren alle bei ihrer eigenen Trauerfeier wach. Die Gelegenheit zu haben, sich zu verabschieden, bevor man stirbt, ist unglaublich, aber sollte man seine letzten Stunden nicht besser damit verbringen zu leben? Vielleicht sähe ich das anders, wenn ich darauf zählen könnte, dass tatsächlich ein paar Leute zu meiner Trauerfeier kommen würden. Wenn ich mehr Freunde hätte als Finger an meiner Hand.
»Und im Namen aller Mitarbeiter des Todesboten möchte ich Ihnen sagen, wie leid es uns tut, Sie zu verlieren, Timothy. Genießen Sie diesen Tag in vollen Zügen, okay?«
»Ich heiße Mateo.«
»Entschuldigen Sie bitte, Mateo. Ich bin untröstlich. Aber es war ein langer Tag. Diese Anrufe können echt stressig sein und …«
Ich lege auf, was nicht besonders höflich ist. Ja, ich weiß. Aber ich höre doch niemandem zu, der mir erzählt, was für einen stressigen Tag er hat, wenn ich innerhalb der nächsten Stunde tot umfallen könnte. Oder sogar schon in den nächsten zehn Minuten: Ich könnte an einem Hustenbonbon ersticken, ich könnte die Wohnung verlassen, um noch etwas zu unternehmen, und dann die Treppe hinunterfallen und mir den Hals brechen, bevor ich überhaupt zur Tür raus bin, oder jemand könnte einbrechen und mich umbringen. Das Einzige, was ich mit Sicherheit ausschließen kann, ist, dass ich an Altersschwäche sterbe.
Ich sinke auf die Knie. Heute wird alles zu Ende gehen und ich kann rein gar nichts dagegen tun. Ich kann nicht durch von Drachen bevölkerte Länder ziehen, um ein Zepter zu finden, das dem Tod Einhalt gebietet. Ich kann nicht auf einen fliegenden Teppich hüpfen und nach einem Flaschengeist suchen, der mir den Wunsch nach einem langen und einfachen Leben erfüllt. Vielleicht könnte ich einen wahnsinnigen Wissenschaftler auftreiben, der mich einfriert, aber wahrscheinlich würde ich mitten in dem verrückten Experiment sterben. Der Tod ist für jeden unausweichlich und für mich heute endgültig.
Die Liste der Leute, die ich vermissen werde, falls Tote jemanden vermissen können, ist so kurz, dass man sie nicht einmal als Liste bezeichnen kann: Dad, der alles gegeben hat, und meine beste Freundin Lidia. Sie hat mich auf dem Schulflur nicht nur wahrgenommen, sondern sich beim Mittagessen sogar zu mir gesetzt, sie ist meine Partnerin in Erdkunde geworden und hat mir erzählt, dass sie als Umweltschützerin die Welt retten will und dass ich zum Dank dafür einfach darin leben soll. Und das wars dann auch schon.
Falls sich jemand für die Liste der Leute, die ich nicht vermissen werde, interessieren sollte, muss ich ihn oder sie enttäuschen. Niemand hat mir je unrecht getan. Und ich verstehe sogar, warum einige Leute sich nicht mit mir einlassen wollten. Wirklich. Ich bin einfach furchtbar paranoid und verkorkst. Die wenigen Male, die ich eingeladen wurde, etwas Cooles mit den Leuten aus meiner Klasse zu unternehmen, zum Beispiel im Park Rollerskates zu fahren oder spätabends noch eine kleine Spritztour mit dem Auto zu machen, habe ich mich gedrückt, weil wir dabei ja vielleicht hätten umkommen können. Ich glaube, was ich am meisten vermissen werde, sind die verpassten Gelegenheiten, mein Leben zu leben, und die ungenutzte Möglichkeit, mit meinen Klassenkameraden echte Freundschaften zu schließen. Ich werde es vermissen, keine engeren Kontakte bei Übernachtungspartys geknüpft zu haben, wo man die ganze Nacht wach bleibt, um Video- und Brettspiele zu spielen – und das nur, weil ich zu ängstlich war.
Der Mensch, den ich am meisten vermissen werde, ist der zukünftige Mateo, der vielleicht etwas lockerer geworden ist und richtig gelebt hat. Es fällt mir schwer, ihn mir genauer vorzustellen, aber ich glaube, dass dieser Mateo neue Dinge ausprobiert, zum Beispiel mit Freunden kifft, den Führerschein macht und in ein Flugzeug nach Puerto Rico steigt, um mehr über seine Herkunft zu erfahren. Vielleicht hat er ein Date mit jemandem und mag die Person. Wahrscheinlich spielt er Klavier für seine Freunde, singt ihnen etwas vor und hat ganz bestimmt eine gut besuchte Trauerfeier, die nach seinem Tod noch ein ganzes Wochenende dauert – mit lauter neuen Leuten, die keine Gelegenheit mehr hatten, ihn ein letztes Mal zu umarmen.
Der zukünftige Mateo hätte eine längere Liste mit Freunden, die er vermissen würde.
Aber ich werde mich nicht mehr in den zukünftigen Mateo verwandeln. Niemand wird sich mehr mit mir bekiffen, niemand wird mir beim Klavierspielen zuhören und niemand neben mir im Auto meines Vaters sitzen, wenn ich den Führerschein gemacht habe. Ich werde mich nie mit Freunden darüber streiten, wer die besseren Bowlingschuhe bekommt oder wer bei unseren Videospielen Wolverine sein darf.
Ich lasse mich nach hinten auf den Boden kippen und denke daran, dass es heute für mich heißt: Jetzt oder nie. Nein, nicht mal das.
Es heißt: Jetzt und dann nie wieder.
00:42 Uhr
Dad duscht immer heiß, um runterzukommen, wenn er wütend oder enttäuscht von sich ist. Ungefähr mit dreizehn habe ich angefangen, ihm das nachzumachen, weil damals viele verwirrende Mateo-Gedanken aufgetaucht sind und ich massenhaft Mateo-Zeit brauchte, um sie zu sortieren. Auch jetzt dusche ich, denn ich fühle mich schuldig, weil ich darauf hoffe, dass die Welt – oder zumindest ein Teil davon, abgesehen von Lidia und meinem Dad – traurig sein wird, wenn ich weg bin. Weil ich es versäumt habe, mich an all den Tagen, als der Todesbote noch nicht angerufen hatte, voll und ganz ins Leben zu stürzen. Weil ich meine gesamte Vergangenheit verschwendet habe und es jetzt keine Zukunft mehr für mich gibt.
Ich werde es niemandem sagen. Außer Dad, aber der ist nicht bei Bewusstsein, deshalb zählt das nicht. Ich will mich an meinem letzten Tag nicht dauernd fragen müssen, ob die Leute es ernst meinen, wenn sie mir traurige Worte schenken. Niemand sollte seine letzten Stunden damit zubringen müssen, die wahren Beweggründe der Menschen herauszufinden.
Aber ich muss hinaus in die Welt und mir einreden, dass heute ein ganz normaler Tag ist. Ich muss Dad im Krankenhaus besuchen und zum ersten Mal seit meiner Kindheit seine Hand halten, was gleichzeitig auch das letzte Mal sein wird … puh, das allerletzte Mal.
Ich werde weg sein, bevor ich mich an den Gedanken meiner Sterblichkeit gewöhnen konnte.
Auch Lidia und ihre einjährige Tochter Penny muss ich besuchen. Lidia hat mich bei der Geburt gefragt, ob ich Pennys Pate sein will, und es ist echt ätzend, dass ausgerechnet ich derjenige bin, der sich eigentlich um Penny kümmern soll, falls Lidia etwas zustößt, da Lidias Freund Christian vor gut einem Jahr gestorben ist. Nur wie soll sich ein Achtzehnjähriger ohne eigenes Einkommen