Am Ende sterben wir sowieso
Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Diestelmeier
Für alle, die daran erinnert werden müssen,
dass jeder Tag zählt.
Ein herzlicher Gruß an Mom für all ihre Liebe
und an Cecilia für ihre harte, aber liebevolle Kritik.
Ich hatte immer beides nötig.
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
der Ausgangspunkt meines Schreibens war immer ein persönlicher, und Am Ende sterben wir sowieso bildet da keine Ausnahme. Aber im Unterschied zu meinen ersten beiden Romanen ist die Handlung dieses Buches keine verfremdete Fanfiction meiner eigenen Erfahrungen, sondern sie entstand gerade aus einem Mangel an Erfahrung. Ich bin jung, habe aber trotzdem schon viele Jahre meines Lebens vergeudet. Ich habe viel zu viel Zeit damit verschwendet, ein wählerischer Esser zu sein, meine Meinung für mich zu behalten, zu lügen, statt Freundschaften zu vertiefen, mich erst mit neunzehn zu meinem Schwulsein zu bekennen, die vielen süßen Typen in der U-Bahn nicht zu grüßen, nicht vor Freunden zu singen, weil ich eine furchtbare Stimme habe, und vieles mehr.
Erst beim Schreiben dieses Buches wurde ich mutiger, ermuntert von einem Jungen, der Stein für Stein die Mauern um sich herum einreißt, bis er schließlich seine vielen Unsicherheiten und Ängste abgelegt hat – und von einem anderen Jungen dazu ermuntert, meine Fehler zu korrigieren und Dinge zu klären, solange noch Zeit dazu ist. Ich habe Krokodilfleisch probiert und werde es nie wieder tun. Ich bin bereit, anderen gegenüber meine Meinung zu vertreten. Ich sage die Wahrheit, auch wenn sie unbequem ist, weil ich gelernt habe, dass das eine Freundschaft festigen kann. Wirklich jeder weiß inzwischen, dass ich schwul bin, sogar – und das ist vielleicht am wichtigsten – alle Schüler in konservativen Bundesstaaten, in denen ich auf Lesereise gehe, egal wie sehr das ihre Eltern möglicherweise auf die Palme bringt. Ich habe noch nie einen süßen Typen in der U-Bahn gegrüßt, aber ich habe bei einem Besucher meines Mitbewohners, der die ganze Zeit mit mir geflirtet hat, den ersten Schritt getan, und jetzt ist er mein Freund. Ich habe mitten in der Woche um drei Uhr morgens in einer Karaokebar mit anderen Jugendbuchautoren gesungen, und ich war grauenhaft und glücklich.
Ich glaube wirklich, wir sollten unser Leben so bald wie möglich und so gut wie möglich leben, denn im Unterschied zu den Figuren in diesem Buch weiß ich nicht, wie viel Zeit mir auf dieser Welt noch bleibt. Und ihr auch nicht. Also wartet nicht zu lange damit, zu denen zu werden, die ihr sein wollt – die Uhr tickt.
Von ganzem Herzen,
Adam Silvera
Erster Teil Der Todesbote
Leben – es gibt nichts Selteneres in der Welt.
Die meisten Leute existieren, weiter nichts.
Oscar Wilde [1]
5. September 2017
MATEO TORREZ
00:22 Uhr
Der Todesbote ruft an und hat eine einschneidende Warnung für mich – heute werde ich sterben. Nein, »Warnung« ist das falsche Wort, denn der Zweck einer Warnung ist ja, dass man etwas vermeiden kann: Wenn ein Autofahrer jemanden anhupt, der bei Rot die Straße überquert, gibt er ihm damit die Möglichkeit, stehen zu bleiben. Das hier ist eher eine Ankündigung. Der Alarm – ein unverwechselbares, unaufhörliches Läuten wie von der Kirchenglocke ein paar Straßen weiter – ertönt aus meinem Handy am anderen Ende des Zimmers. Und schon bin ich kurz davor, auszurasten. Ein ganzer Schwall Gedanken löscht augenblicklich alles um mich herum. Ich wette, ähnlich verwirrt fühlt sich eine Fallschirmspringerin, wenn sie sich zum ersten Mal aus einem Flugzeug stürzt, oder ein Pianist bei seinem ersten Konzert. Nicht, dass ich das je erleben werde.
Es ist verrückt. Gerade eben noch habe ich den gestrigen Blogeintrag auf Countdown gelesen – einer Seite, auf der Todgeweihte ihre letzten Stunden mit Einträgen und Fotos live dokumentieren, wobei es in dem konkreten Beitrag um einen Studenten ging, der ein neues Zuhause für seinen Golden Retriever suchte – und jetzt werde ich selbst sterben.
Ich werde … nein … ja. Ja.
Mir bleibt die Luft weg. Heute werde ich sterben.
Ich hatte schon immer Angst vor dem Sterben. Ich weiß nicht, warum ich dachte, dass genau diese Angst mich auf magische Weise davor bewahren würde. Natürlich nicht für immer, aber zumindest bis ich erwachsen sein würde. Dad hat mir immer eingeschärft, ich solle mir vorstellen, ich wäre in einer Geschichte die Hauptfigur, der nichts Schlimmes zustößt und die erst recht nicht stirbt, denn der Held muss schließlich am Ende die Welt retten. Aber jetzt legt sich langsam der Lärm in meinem Kopf und am anderen Ende der Leitung wartet der Todesbote, um mir zu sagen, dass ich heute im Alter von achtzehn Jahren sterben werde.
Puh, ich werde wirklich …
Ich will nicht rangehen. Lieber würde ich in Dads Schlafzimmer rennen und in ein Kissen brüllen, weil er sich den unpassendsten Moment ausgesucht hat, um auf der Intensivstation im Koma zu liegen. Oder gegen eine Wand schlagen, weil ich für einen frühen Tod schon vorherbestimmt war, als meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist. Das Telefon klingelt zum vermutlich dreißigsten Mal, und ich kann es genauso wenig ignorieren wie das, was heute im Lauf des Tages passieren wird.
Also schiebe ich den Laptop von meinem Schoß und erhebe mich leicht schwankend aus dem Bett. Ich habe ein flaues Gefühl. Wie ein Zombie gehe ich auf den Schreibtisch zu, langsam, ein lebender Toter.
Auf dem Display steht TODESBOTE, was sonst.
Obwohl ich zittere, gelingt es mir, den Anruf entgegenzunehmen. Ich sage nichts. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Darum atme ich bloß, denn ich habe weniger als achtundzwanzigtausend Atemzüge übrig – die durchschnittliche Anzahl von Atemzügen, die ein Mensch täglich macht – und kann sie genauso gut auch aufbrauchen, solange es noch geht.
»Hallo, hier spricht der Todesbote. Mein Name ist Andrea. Sind Sie das, Timothy?«
Timothy.
Ich heiße nicht Timothy.
»Sie haben den Falschen«, erkläre ich Andrea. Mein Herzschlag beruhigt sich, auch wenn ich Mitleid mit diesem Timothy habe. Wirklich. »Ich heiße Mateo.« Den Namen habe ich von meinem Vater, er möchte, dass ich ihn selbst ebenfalls weitergebe. Was ich jetzt auch tun kann, falls ich irgendwann einen Sohn haben werde.
Ich höre eine Computertastatur klappern, während Andrea wohl den Eintrag oder sonst irgendetwas in ihrer Datenbank korrigiert.
»Oh, entschuldigen Sie bitte. Timothy war der Herr, mit dem ich vorhin gesprochen habe. Er hat die Nachricht nicht besonders gut aufgenommen, der Arme. Sie sind Mateo Torrez, nicht wahr?«
Und damit schwindet auch mein letzter Rest Hoffnung.
»Mateo, bitte bestätigen Sie Ihre Identität. Ich fürchte, ich muss heute Nacht noch sehr viele Anrufe erledigen.«
Ich hatte mir immer vorgestellt, meine Botin würde mitfühlend klingen und mir die Nachricht schonend beibringen, ja vielleicht sogar eindringlich beteuern, dass mein Tod angesichts meiner Jugend besonders tragisch sei. Um ehrlich zu sein, hätte ich es auch in Ordnung gefunden, wenn sie aufgekratzt gewesen wäre und mir gesagt hätte, dass ich mich amüsieren und das Beste aus diesem Tag machen solle, da ich doch jetzt immerhin wisse, was mir bevorstehe. Dann würde ich nicht zu Hause hocken bleiben und Puzzles mit tausend Teilen anfangen, die ich nie beenden kann, oder mir einen runterholen, weil ich Angst vor Sex mit einem echten Menschen habe. Aber diese Botin gibt mir das Gefühl, dass ich nur ihre Zeit verschwende, von der sie im Gegensatz zu mir noch so viel übrig hat.
»Okay. Mateo, das bin ich. Ich bin Mateo.«
»Mateo, es tut mir leid, Ihnen mitteilen