2. Überlegung und Vorsatz
In der Seele nun gibt es drei Vermögen, die das Handeln wie die Wahrheitserkenntnis beherrschen: die sinnliche Wahrnehmung, das Denken und das Wollen. Unter diesen dreien enthält die sinnliche Wahrnehmung kein Prinzip für irgendwelche Tätigkeit. Das sieht man schon daran, daß die Tiere wohl sinnliche Wahrnehmung, aber keinen Anteil am praktischen Verhalten haben. Was nun im Denken die Bejahung und die Verneinung ist, das ist im Wollen das Begehren und das Meiden. Da also die sittliche Willensbeschaffenheit die befestigte Richtung auf die Bildung von Vorsätzen bestimmter Art, diese befestigte Richtung aber ein auf denkende Überlegung begründetes Wollen ist, so muß eben deshalb der dadurch gewonnene Satz ein wahrer und das Wollen ein richtig gebildetes sein, falls der Vorsatz billigenswert sein soll, und das was das Urteil aussagt und das was der Wille anstrebt muß identisch sein. Diese denkende Reflexion und die von ihr gefundene Wahrheit ist also von praktischer Art. Das was sich im rein theoretischen Denken, sofern es weder ein Handeln noch ein Gestalten bezweckt, aus dem richtigen und aus dem verfehlten Verfahren ergibt, das ist das Wahre und das Falsche; denn das ist die Funktion alles gedanklichen Verfahrens. Wo es sich aber um ein auf praktisches Verhalten gerichtetes Nachdenken handelt, da entspricht die Wahrheit dem richtigen Begehren. Der Ausgangspunkt für das Handeln nun ist der Vorsatz; er ist es als Anstoß der Bewegung, nicht als Zweck. Der Ausgangspunkt für die Bildung des Vorsatzes aber ist das Begehren und die durch den Zweck bestimmte Überlegung. Daher gibt es keine Vorsatzbildung ohne reflektierendes Denken einerseits und ohne befestigte Richtung in sittlicher Beziehung andererseits; es gibt so wenig eine richtige wie eine entgegengesetzte Handlungsweise ohne diese beiden Momente, die Reflexion und die Charakterbestimmtheit. Dagegen gibt die Reflexion als solche noch keinen Grund der Bewegung ab, sondern erst die durch den Zweck und die Beziehung auf das Handeln geleitete Reflexion. Diese nun beherrscht auch die gestaltende Tätigkeit. Denn wer etwas gestaltet, der tut es jedesmal im Hinblick auf einen Zweck, und nicht ein Zweck ohne weiteres, sondern erst der Zweck als bezogen auf etwas Bestimmtes und als Gestaltung von etwas Bestimmtem, liefert den Inhalt des Gestaltens. Beim Handeln dagegen leistet es der Zweck ohne weiteres. Denn das Ziel ist hier das richtige Handeln selber, nicht die Herstellung eines Objekts, und darauf ist das Streben gerichtet. Darum ist ein Vorsatz entweder ein begehrendes Denken oder ein gedankliches Begehren, und der Urheber eines Handelns von diesem Charakter ist der Mensch.
Was nun den Inhalt eines Vorsatzes bildet, ist niemals ein Vergangenes. So nimmt sich niemand vor, Ilium zerstört zu haben. Was vergangen ist, überlegt man sich nicht, sondern was zukünftig ist und was möglicherweise eintreten kann; denn das Vergangene schließt die Möglichkeit aus nicht eingetreten zu sein. So sagt Agathon mit Recht:
Denn dies allein, selbst einem Gotte bleibt's versagt;
Geschehne Dinge ungeschehn macht auch kein Gott.
So ist denn die Wahrheitserkenntnis die Funktion beider Teile des Vernunftvermögens, und die eigentliche Vollkommenheit beider besteht in der befestigten Beschaffenheit, vermöge deren jede derselben die Wahrheit zu treffen imstande ist.
3. Die Formen intellektueller Betätigung
Wir setzen nunmehr bei entlegeneren Gesichtspunkten ein, um über diese Dinge aufs neue zu verhandeln. Es mag also als ausgemacht angenommen werden, daß es der Zahl nach diese fünf Tätigkeitsformen gebe, durch die der Geist sich im bejahenden oder verneinenden Urteil der Wahrheit bemächtigt: Kunstfertigkeit (technê), wissenschaftliche Erkenntnis (epistêmê), praktische Einsicht (phronêsis), ideale Geisteskultur (sophia) und intuitive Vernunft (nous). Denn woran man sonst noch denken könnte, bloßes Vorstellen und Meinen, läßt immer die Möglichkeit des Irrtums offen.
Was nun wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet, wird, wenn es doch geboten ist sich in begrifflicher Strenge zu bewegen und nicht bloßen Analogien nachzugehen, aus folgendem klar werden. Unser aller gemeinsame Überzeugung ist doch dies, daß das was Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis ist, die Möglichkeit ausschließt, daß sich die Sache auch anders verhalten könnte. Von dem was sich möglicherweise auch anders verhalten kann, läßt sich, sofern der Gegenstand nicht der unmittelbaren Beobachtung untersteht, nicht ausmachen, ob es ist oder nicht. Was den Inhalt eines Wissens bildet, ist also ein Notwendiges und mithin ein Ewiges; denn was ohne weitere Bedingung ein Notwendiges ist, das ist alles auch ein Ewiges, und vom Ewigen gibt es kein Entstehen und kein Vergehen. Zweitens ist es die allgemeine Meinung, daß alles wirkliche Wissen gelehrt und der Inhalt der Wissenschaft erlernt werden kann. Nun vollzieht sich alles Lernen auf Grund schon vorhandener Kenntnis, wie wir es auch in unseren Schriften zur Logik nachweisen, teils auf dem Wege der Induktion, teils in syllogistischem Verfahren. Die Induktion also ist das Prinzip auch für das Allgemeine; das syllogistische Verfahren dagegen geht vom Allgemeinen aus. Es gibt mithin Prinzipien, aus denen der Syllogismus fließt, die nicht auf syllogistischem Wege gewonnen werden; dafür also gibt es eine Induktion. Wissenschaftliche Erkenntnis trägt demnach den Charakter eigentlicher Beweisbarkeit, und dazu kommt dann weiter, was wir sonst noch alles zur Bestimmung ihres Begriffes in unseren Schriften zur Logik beigebracht haben. Wissenschaft hat einer, soweit er irgendwie zu voller Gewißheit gelangt ist und die Kenntnis der Prinzipien besitzt. Denn sind ihm diese nicht in höherem Maße bekannt als die Konklusion des Schlusses, so hat er ein Wissen nur von uneigentlicher Art. Damit mag der Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnis gekennzeichnet sein.
Von dem nun was möglicherweise auch anders sein kann, ist das eine Gegenstand der gestaltenden Tätigkeit, das andere Gegenstand des Handelns. Dieses beides, gestaltende Tätigkeit und Handeln, ist zweierlei; was diesen Unterschied anbetrifft, dafür berufen wir uns auch auf die geläufige Literatur. Und so ist denn auch das befestigte Vermögen vernünftigen Handelns ein anderes als das Vermögen vernünftigen Bildens und Gestaltens. Darum ist keines der beiden in dem anderen mitenthalten; das Handeln ist kein Gestalten, das Gestalten kein Handeln. Nun gibt es eine Kunst des Baumeisters, und diese ist eine Art des mit vernünftiger Überlegung verbundenen gestaltenden Vermögens; es gibt überhaupt so wenig eine Geschicklichkeit, die nicht ein mit vernünftiger Überlegung verbundenes gestaltendes Vermögen wäre, wie es ein solches Vermögen gibt, das nicht eine Geschicklichkeit bedeutete. Und so ist denn künstlerische Geschicklichkeit und das Vermögen des Gestaltens im Bunde mit vernünftiger, die Wahrheit treffender Überlegung eins und dasselbe. Nun ist alle Kunst darauf gerichtet, daß aus ihr ein Gegenstand hervorgeht; sie ist die Betätigung der Geschicklichkeit und das Betrachten, wie wohl ein solches, was möglicherweise sein und auch nicht sein kann, und wofür die Urheberschaft in der gestaltenden Person, nicht in der gestalteten Sache selbst liegt, zum Dasein gelangen kann. Denn die Kunst befaßt sich nicht mit solchem was notwendig ist oder geschieht, und auch nicht mit solchem was sich der Natur gemäß vollzieht; denn dergleichen hat seinen Grund in sich selbst. Ist nun gestaltende Tätigkeit und Handeln zweierlei, so gehört die Kunst notwendig der gestaltenden Tätigkeit und nicht dem Handeln an. In gewissem Sinne läuft der Zufall und die Kunst auf die Hervorbringung derselben Gegenstände hinaus. So sagt schon Agathon:
Kunst liebt den Zufall, und der Zufall liebt die Kunst.
Die Kunst also ist, wie wir dargelegt haben, ein befestigtes Vermögen des Gestaltens im Bunde mit das Wahre treffender Überlegung; das Fehlen der Kunst ist im Gegensatze dazu ein gestaltendes Vermögen in Verbindung mit einer im Falschen sich bewegenden Überlegung; beide aber haben die Richtung gemeinsam auf das, was die Möglichkeit hat sich auch anders zu verhalten.
Was weiter die praktische Einsicht anbetrifft, so werden wir uns darüber in der Weise verständigen, daß wir ins Auge fassen, welche Menschen man einsichtsvoll nennt. Als Kennzeichen des einsichtigen Mannes gilt dies, daß er das Vermögen hat, über das was für ihn gut ist und ihm frommt zutreffende Überlegungen anzustellen, nicht über spezielle Gegenstände, wie z.B. über die Frage, was der Gesundheit, oder was