Wir müssen also wiederum unsere Untersuchung auch über die Anforderung an den Charakter erstrecken. Die Charakterbeschaffenheit nämlich verhält sich nahezu so wie die praktische Einsicht. Wie diese sich zur Geschicklichkeit verhält, sie ist nicht mit ihr identisch, aber ihr doch ähnlich, so verhält sich auch die auf Naturausstattung beruhende Trefflichkeit zu eigentlicher sittlicher Trefflichkeit. Jede einzelne Charaktereigenschaft, darf man sagen, ist bei allen irgendwie schon von Natur angelegt. Wir sind gerecht, zur Besonnenheit geneigt, energisch, wir haben die anderen Eigenschaften, alles gleich von der Geburt an. Aber gleichwohl suchen wir nach etwas anderem, was erst das Gute im eigentlichen Sinne ist, und begehren daß diese Eigenschaften noch in anderem Sinne vorhanden seien. Als natürliche Ausstattung kommen diese Eigenschaften auch den Kindern und den Tieren zu, aber ohne die denkende Vernunft erweisen sie sich als verderblich. Wenigstens soviel scheint die Erfahrung zu lehren, daß wie es bei einem kräftigen Körper, der sich bewegt ohne Sehkraft zu haben, wohl begegnet, daß er hart anstößt, weil ihm die Sehkraft mangelt, das gleiche hier auch geschieht. Wenn aber die denkende Vernunft hinzutritt, dann tun sich in der praktischen Betätigung jene Trefflichkeiten hervor; dann wird die Eigenschaft, die mit sittlicher Tüchtigkeit bloß Ähnlichkeit besaß, zu wirklicher Sittlichkeit im eigentlichen Sinne. Wie es im Gebiete der Ansichtsbildung zwei Arten gibt, Geschicklichkeit und praktische Einsicht, so gibt es auch auf dem Gebiete der sittlichen Charakterbildung zwei Arten, die eine die Trefflichkeit durch Naturaustattung, die andere die sittliche Trefflichkeit im eigentlichen Sinne, und von diesen beiden bildet sich die eigentliche Trefflichkeit nicht ohne praktische Einsicht heraus. Das ist auch der Grund, weshalb manche behaupten, alle Arten sittlicher Willensrichtung seien Formen der Verstandesbildung, und Sokrates hat in dem einen Sinne wohl das Rechte getroffen, während er es im anderen Sinne verfehlte. Darin daß er meinte, alle Arten sittlicher Trefflichkeit seien Arten der Verstandesbildung, hat er geirrt; dagegen hat er mit Recht gesagt, daß sie nicht ohne Verstandesbildung zustande kämen. Der Beweis dafür ist der: auch die Heutigen machen sämtlich, wenn sie sittliche Trefflichkeit begrifflich bestimmen wollen, den Zusatz, nachdem sie zuvor die befestigte Willensrichtung und das Gebiet, auf das sie sich bezieht, angegeben haben, sie sei die dem richtigen Denken entsprechende Willensrichtung; richtiges Denken aber heißt das durch praktische Einsicht geleitete Denken. Damit machen sie sämtlich den Eindruck, als ob ihnen irgendwie die Vermutung aufgegangen wäre, daß eine derartige Charakterbeschaffenheit, die praktischer Einsicht entspricht, sittliche Trefflichkeit ist. Wir müssen aber noch einen Schritt weitergehen. Sittliche Trefflichkeit ist eine Willensrichtung, die nicht nur dem richtigen Denken entspricht, sondern die sich ausdrücklich mit dem richtigen Denken verbündet; richtiges Denken über dergleichen Dinge ist aber praktische Einsicht. Sokrates war der Meinung, die Arten sittlicher Trefflichkeit seien Formen der gedanklichen Bildung, denn sie seien insgesamt Erkenntnisse; wir dagegen sagen: sie stehen mit gedanklicher Bildung im Bunde.
Aus dem was wir ausgeführt haben geht hervor, daß es ebensowenig möglich ist ein sittlicher Mensch im eigentlichen Sinne zu sein ohne intellektuelle Bildung, wie praktische Einsicht zu haben ohne sittliche Trefflichkeit. Auf diese Weise mag sich auch der dialektische Einwand heben lassen, der darauf beruht, daß die einzelnen Richtungen des sittlichen Willens getrennt vorkommen. Ein und derselbe Mensch hat nämlich nicht zu allen die gleiche natürliche Anlage, und so geschieht es, daß er, während er die eine sich schon angeeignet hat, die andere noch nicht besitzt. Das kann wohl der Fall sein bei den auf Naturausstattung beruhenden Vorzügen; aber es kann nicht stattfinden bei den Eigenschaften, um derentwillen jemand ein guter Mensch ohne weiteres genannt wird. Denn mit der intellektuellen Bildung, die nur eine ist, stellen sie sich sämtlich zugleich ein.
Aber gesetzt selbst, diese Bildung wäre für das praktische Verhalten nicht von Bedeutung, so bedürfte man ihrer offenbar dennoch, weil sie die rechte Beschaffenheit des einen geistigen Vermögens ist, und weil die Bildung von Vorsätzen ebensowenig da die richtige sein kann, wo die intellektuelle Bildung, wie da, wo die sittliche Willensrichtung fehlt. Bewirkt die eine, daß man sich das Ziel richtig setzt, so bewirkt die andere, daß man den rechten Weg zum Ziele einschlägt. Aber allerdings, diese intellektuelle Bildung ist nicht die Herrin über die ideale Geisteskultur noch über das edlere Geistesvermögen, sowenig wie die Heilkunde die Herrin ist über die Gesundheit; sie verwendet sie nicht in ihrem Dienste, sondern sorgt nur dafür, daß sie zustande kommt, und wenn sie ihre Vorschriften macht, so macht sie sie nicht ihr, sondern um ihretwillen. Es wäre ebenso, wenn jemand sagen wollte, die Staatskunst übe die Herrschaft über die Götter, weil sie betreffs alles dessen was zum Staatsleben gehört ihre Anordnungen trifft.
II. Willensbildung
1. Sittlicher und unsittlicher Wille
3. Der Wille im Verhältnis zu Affekten und Begierden
1. Sittlicher und unsittlicher Wille
Wir treten nunmehr, unter einem neuen Gesichtspunkte, in eine weitere Untersuchung ein. Es gibt, wo es sich um den sittlichen Charakter handelt, drei Arten von solchem, was demselben feindlich gegenübersteht: böser Wille, Genußsucht und tierische Roheit. Die Gegensätze dazu liegen bei zweien von ihnen klar vor Augen: den einen nennt man edle Gesinnung, den anderen Selbstbeherrschung. Als den Gegensatz zur tierischen Roheit würde man am passendsten diejenige Hoheit des Wesens bezeichnen, die als heroische oder göttliche über die gewöhnliche menschliche Natur weit hinausliegt. So läßt Homer den Priamos von Hektor sagen, um seine hervorragende Tüchtigkeit zu bezeichnen:
Und er schien nicht
Wie einem sterblichen Mann, nein, wie einem Gotte entsprossen.
Wenn daher, wie die Rede geht, Menschen durch den höchsten Grad der Trefflichkeit zu Göttern werden, so würde offenbar eine derartige Trefflichkeit diejenige sein, die zu dem Zustande tierischer Gefühlsroheit den strikten Gegensatz bildet. Denn wie bei einem Tier nicht von Tugend noch von Laster die Rede sein kann, so auch nicht bei Gott. Hier findet sich was höher steht als alle Tugend, dort hat Schlechtigkeit eine andere Bedeutung. Da es aber etwas Seltenes ist, »ein göttlicher Mann« zu sein, wie die Lakedämonier jemand zu benennen pflegen, wenn sie ihn sehr hoch stellen wollen sie sagen dann »ein göttlicher Mann«, so ist auch tierische Roheit bei Menschen eine seltene Erscheinung. Am häufigsten kommt sie noch bei auswärtigen, nichthellenischen Völkern vor; doch nehmen die Menschen zuweilen auch infolge von Krankheiten und von Entartung solche Eigenschaften an. Mit diesem schimpflichen Ausdruck belegen wir Menschen, die durch einen besonders hohen Grad von Bosheit es anderen zuvortun. Indessen,