Richtig!
Wenn also der Tod des Körpers auch der Tod der Seele seyn soll: so muß es auch keinen Augenblick geben, da man sagen kann, itzt verschwindet die Seele; sondern nach und nach, wie die Bewegungen in den Theilen der Maschine aufhören zu einem einzigen Endzwecke zu harmoniren, muß die Seele auch an Kraft und innerer Wirksamkeit abnehmen. Scheinet es dir nicht also, mein Cebes!
Vollkommen!
Aber siehe! welche wunderbare Wendung unsere Untersuchung genommen hat! Sie scheinet sich, wie ein Kunstwerk meines Eltervaters Dädalus, durch ein inneres Triebwerk von ihrer vorigen Stelle weggerollt zu haben.
Wie so?
Wir haben angenommen, unsere Gegner besorgten, die Seele würde plötzlich zernichtet werden, und wollten zusehen, ob diese Furcht gegründet sey, oder nicht. Wir haben darauf untersucht, in welchem Augenblicke sie zernichtet werden möchte: und diese Untersuchung selbst brachte uns auf das Widerspiel der Voraussetzung, daß sie nehmlich nicht plötzlich vernichtet werde, sondern allmählig an inneres, Kraft und Wirksamkeit abnehme.
Desto besser, antwortete Cebes. So hat sich jene angenommene Meynung gleichsam selbst widerlegt.
Wir haben also nur noch dieses zu untersuchen, ob die inneren Kräfte der Seele nicht so allmählig vergehen können, wie sich die Theile der Maschine trennen.
Richtig!
Lasset uns diese getreuen Gefährten, Leib und Seele, die auch den Tod mit einander gemein haben sollen, auf ihrer Reise verfolgen, um zu sehen, wo sie zuletzt bleiben. So lange der Körper gesund ist, so lange die mehresten Bewegungen der Maschine auf die Erhaltung des Ganzen abzielen, die Werkzeuge der Empfindung auch ihre gehörige Beschaffenheit haben, so besitzt auch die Seele ihre völlige Kraft, empfindet, denkt, liebet, verabscheuet, begreifet und will. Nicht?
Unstreitig!
Der Leib wird krank. Es äußert sich eine sichtbare Mißhelligkeit zwischen den Bewegungen, die in der Maschine vorgehen, indem ihrer viele nicht mehr zur Erhaltung des Ganzen harmoniren, sondern ganz besondere und streitende Endzwecke haben. Und die Seele?
Wie die Erfahrung lehret, wird sie indessen schwächer, empfindet unordentlich, denkt falsch und handelt öfters wider ihren Dank. Gut! Ich fahre fort. Der Leib stirbt: das heißt, alle Bewegungen scheinen nunmehr nicht mehr auf das Leben und die Erhaltung des Ganzen abzuzielen; aber innerlich mögen wohl noch einige schwache Lebensbewegungen vorgehen, die der Seele noch einige dunkele Vorstellungen verschaffen: auf diese muß sich also die Kraft der Seele so lange einschränken. Nicht?
Allerdings!
Die Verwesung folgt. Die Theile, die bisher einen gemeinschaftlichen Endzweck gehabt, eine einzige Maschine ausgemacht haben, bekommen itzt ganz verschiedene Endzwecke, werden zu mannigfaltigen Theilen ganz verschiedener Maschinen. Und die Seele, mein Cebes? wo wollen wir die lassen? Ihre Maschine ist verweset. Die Theile, die noch von derselben übrig sind, sind nicht mehr ihre, und machen auch kein Ganzes aus, das beseelt werden könnte. Hier sind keine Gliedmaßen der Sinne, keine Werkzeuge des Gefühls mehr, durch deren Vermittelung sie irgend zu einer Empfindung gelangen könnte. Soll also alles in ihr öde seyn? Sollen alle ihre Empfindungen, ihre Einbildungen, ihre Begierden und Verabscheuungen, Neigungen und Leidenschaften verschwunden seyn, und nicht die geringste Spur hinterlassen haben?
Unmöglich, sprach Cebes. Was wäre dieses anders als eine völlige Zernichtung, und keine Zernichtung, haben wir gesehen, stehet in dem Vermögen der Natur.
Was ist also für Rath, meine Freunde? Untergehen kann die Seele in Ewigkeit nicht; denn der letzte Schritt, man mag ihn noch so weit hinaus schieben, wäre immer noch vom Daseyn zum Nichts ein Sprung, der weder in dem Wesen eines einzelnen Dinges, noch in dem ganzen Zusammenhange gegründet seyn kann. Sie wird also fort dauren, ewig vorhanden seyn. Soll sie vorhanden seyn, so muß sie wirken und leiden; soll sie wirken und leiden, so muß sie Begriffe haben, denn empfinden, denken und wollen sind die einzigen Wirkungen und Leiden, die einer Seele zukommen können. Die Begriffe nehmen allezeit ihren Anfang von einer sinnlichen Empfindung, und wo sollen sinnliche Empfindungen herkommen, wenn keine Werkzeuge, keine Gliedmaßen der Sinne vorhanden sind?
Nichts scheinet richtiger, sprach Cebes, als diese Folge von Schlüssen, und gleichwohl leitet sie zu einem offenbaren Widerspruch.
Eines von beiden, fuhr Sokrates fort: Entweder die Seele muß vernichtet werden, oder sie muß nach der Verwesung des Leibes noch Begriffe haben. Man ist sehr geneigt, diese beiden Fälle für unmöglich zu halten, und gleichwohl muß einer davon wirklich seyn? Laß sehen, ob wir aus diesem Labyrinthe keinen Ausgang finden können! Von der einen Seite kann unser Geist natürlicher Weise nicht vernichtet werden. Worauf gründet sich diese Unmöglichkeit? – Seyd unverdrossen, Freunde! mir durch dornichte Gänge zu folgen: sie führen uns auf eine der herrlichsten Gegenden, die das Gemüth der Menschen jemals ergetzt hat. Antwortet mir! Hat uns nicht ein richtiger Begriff von Kraft und natürlicher Veränderung auf die Folge geleitet, daß die Natur keine Vernichtung wirken könne?
Richtig!
Von dieser Seite ist also schlechterdings kein Ausgang zu hoffen, und wir müssen umkehren. Die Seele kann nicht vergehen, sie muß nach dem Tode fort dauren, wirken, leiden, Begriffe haben. Hier stehet uns die Unmöglichkeit im Wege, daß unser Geist, ohne sinnliche Eindrücke, Begriffe haben soll: aber wer leistet für diese Unmöglichkeit die Gewähr? Ist es nicht bloß die Erfahrung, daß wir hier in diesem Leben niemals ohne sinnliche Eindrücke haben denken können?
Nichts anders.
Was für Grund haben wir aber, diese Erfahrung über die Grenzen dieses Lebens auszudehnen, und der Natur schlechterdings die Möglichkeit abzusprechen, die Seele, ohne diesen gegliederten Leib, denken zu lassen? Was meynest du, Simmias? würden wir einen Menschen nicht höchst lächerlich finden, der die Mauern von Athen niemals verlassen hätte, und aus seiner eigenen Erfahrung schließen wollte, daß keine andere Regierungsform, als die demokratische, möglich wäre?
Nichts wäre ungereimter.
Wenn ein Kind im Mutterleibe denken könnte, würde es wohl zu bereden seyn, daß es dereinst, von seiner Wurzel abgelöset, in freyer Luft das erquickende Licht der Sonne genießen werde? würde es nicht vielmehr aus seinen jetzigen Umständen die Unmöglichkeit eines solchen Zustandes beweisen zu können glauben?
Allem Ansehen nach.
Und wir Blödsinnigen, denken wir etwa vernünftiger, wenn wir, in dieses Leben eingekerkert, durch unsere Erfahrungen ausmachen wollen, was der Natur auch nach diesem Leben möglich sey? –
Ein einziger Blick in die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Natur kann uns von dem Ungrunde solcher Schlüsse überführen. Wie dürftig, wie schwach würde sie seyn, wenn ihr Vermögen nicht weiter reichete, als unsere Erfahrung!
Freylich!
Wir können also mit gutem Grunde diese Erfahrung verwerfen, indem wir ihr die ausgemachte Unmöglichkeit entgegengesetzt, daß unser Geist untergehen sollte. Homer läßt seinen Held mit Recht ausrufen: Fürwahr! auch in den Häusern des Orkus webt noch die Seele, wiewohl kein Leichnam dahin kömmt. Die Begriffe, die uns Homer von dem Orkus, und von den Schatten, die hinunter wandeln, machet, scheinen zwar nicht überall mit der Wahrheit übereinzukommen; aber dieses ist gewiß, meine Geliebten! unser Geist siegt über Tod und Verwesung, läßt den Leichnam zurück, um hienieden in tausend veränderten Gestalten die Absichten des Allerhöchsten zu erfüllen, er aber erhebt sich über den Staub, und fähret fort, nach andern natürlichen, aber überirdischen