Dieses ist meine Vertheidigung, Simmias und Cebes! warum ich meine besten Freunde hienieden ohne Betrübniß verlasse, und bey Herannahung der Todesstunde so wenig zittere. Ich glaube, allda bessere Freunde und ein besseres Leben zu finden, als ich hier zurück lasse, so wenig auch dieses beym gemeinen Haufen Glauben finden wird.
Hat nun meine jetzige Schutzrede bessern Eingang gefunden, als jene, die ich vor den Richtern der Stadt gehalten, so hin ich vollkommen vergnügt.
Sokrates hatte ausgeredet, und Cebes ergriff das Wort: Es ist wahr Sokrates! du hast dich vollkommen gerechtfertiget; allein was du von der Seele behauptest, muß vielen unglaublich scheinen; denn sie halten insgemein dafür, die Seele sey nirgend mehr anzutreffen, so bald sie den Körper verlassen, sondern werde, gleich nach dem Tode des Menschen, aufgelöset und zernichtet. Sie steige, wie ein Hauch, oder wie ein feiner Dampf, aus dem Körper in die obere Luft, allwo sie vergehe, und völlig aufhöre zu seyn. Könnte es ausgemacht werden, daß die Seele für sich bestehen kann, und nicht nothwendig mit diesem Leibe verbunden seyn muß: so hätten die Hoffnungen, die du dir machest, eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit; denn so bald es mit uns nach dem Tode besser werden kann: so hat der Tugendhafte auch gegründete Hoffnungen, daß es mit ihm wirklich besser werden wird. Allein die Möglichkeit selbst ist schwer zu begreifen, daß die Seele nach dem Tode noch denken, daß sie noch Willen und Verstandeskräfte haben soll; dieses also, mein Sokrates, erfodert noch einigen Beweis.
Du hast Recht, Cebes! versetzte Sokrates. Allein was ist zu thun? Wollen wir etwa überlegen, ob wir einen Beweis finden können, oder nicht?
Ich bin sehr begierig, sprach Cebes, deine Gedanken hierüber zu vernehmen.
Wenigstens kann derjenige, erwiederte Sokrates, der unsere Unterredung höret, und wenn er auch ein Komödienschreiber wäre, mir nicht vorwerfen, ich beschäfftige mich mit Grillen, die weder nützlich noch erheblich sind. Die Untersuchung, die wir itzt anstellen wollen, ist vielmehr so wichtig, daß uns jeder Dichter gern erlauben wird, um den Beystand einer Gottheit zu flehen, bevor wir zum Werke schreiten. – Er schwieg, und saß eine Zeit lang wie in Gedanken vertieft; sodann sprach er: Doch, meine Freunde! mit lauterm Herzen die Wahrheit suchen, ist die würdigste Anbetung der einzigen Gottheit, die uns Beystand leisten kann. Zur Sache also! Der Tod, o Cebes! ist eine natürliche Veränderung des menschlichen Zustandes, und wir wollen itzt untersuchen, was bey dieser Veränderung so wohl mit dem Leibe des Menschen, als mit seiner Seele vorgehet. Nicht?
Richtig!
Sollte es nicht rathsam seyn, erst überhaupt zu erforschen, was eine natürliche Veränderung ist, und wie die Natur ihre Veränderungen nicht nur in Ansehung des Menschen, sondern auch in Ansehung der Thiere, Pflanzen, und leblosen Dinge hervor zu bringen pflegt? Mich dünkt, wir werden auf diese Weise näher zu unserm Entzwecke kommen. Der Einfall scheinet nicht unglücklich, versetzte Cebes; wir müssen also fürs erste eine Erklärung suchen, was Veränderung sey.
Mich dünkt, sprach Sokrates, wir sagen, ein Ding habe sich verändert, wenn unter zwoen entgegen gesetzten Bestimmungen, die ihm zukommen können, die eine aufhöret, und die andere anfängt wirklich zu seyn. Z. B. schön und häßlich, gerecht und ungerecht, gut und böse, Tag und Nacht, schlafen und wachen, sind dieses nicht entgegen gesetzte Bestimmungen, die bey einer und eben derselben Sache möglich sind?
Ja!
Wenn eine Rose welkt und ihre schöne Gestalt verlieret: sagen wir alsdann nicht, sie habe sich verändert?
Allerdings!
Und wenn ein ungerechter Mann seine Lebensart verändern will, muß er nicht eine entgegengesetzte annehmen, und gerecht werden?
Wie anders?
Auch umgekehrt, wenn durch eine Veränderung etwas entstehen soll, so muß vorhin das Widerspiel davon da gewesen seyn. So wird es Tag, nachdem es vorhin Nacht gewesen, und hinwiederum Nacht, nachdem es vorhin Tag gewesen; ein Ding wird schön, groß, schwer, ansehnlich u. s. w. nachdem es vorhin häßlich, klein, leicht, unansehnlich gewesen ist: Nicht?
Ja!
Eine Veränderung heißt also überhaupt nichts anders, als die Abwechselung der entgegengesetzten Bestimmungen, die an einem Dinge möglich sind. Wollen wir es bey dieser Erklärung bewenden lassen? Cebes scheinet noch unentschlossen –
Eine Kleinigkeit, mein lieber Sokrates! das Wort entgegengesetzte macht mir einiges Bedenken. Ich sollte nicht glauben, daß schnurstracks entgegengesetzte Zustände unmittelbar auf einander folgen könnten.
Richtig! versetzte Sokrates. Wir sehen auch, daß die Natur in allen ihren Veränderungen einen Mittelzustand zu finden weiß, der ihr gleichsam zum Uebergange dienet, von einem Zustande auf den entgegengesetzten zu kommen. Die Nacht folgt z. B. auf den Tag, vermittelst der Abenddemmerung, so wie der Tag auf die Nacht, vermittelst der Morgendemmerung: Nicht?
Freylich.
Das Große wird klein, vermittelst der Abnahme, und das Kleine hinwiederum groß, vermittelst des Anwachses.
Richtig.
Wenn wir auch in gewissen Fällen diesem Uebergange keinen besondern Namen gegeben: so ist doch nicht zu zweifeln, daß er wirklich vorhanden seyn müsse, wenn ein Zustand natürlicher Weise mit seinem Widerspiel abwechseln soll: denn muß nicht eine Veränderung, die natürlich seyn soll, durch die Kräfte, die in die Natur gelegt sind, hervorgebracht werden?
Wie könnte sie sonst natürlich heißen?
Diese Kräfte aber sind stets wirksam, stets lebendig: denn wenn sie nur einen Augenblick entschliefen, so würde sie nichts als die Allmacht zur Thätigkeit aufwecken können. Was aber nur die Allmacht thun kann, wollen wir dieses natürlich nennen?
Wie könnten wir? sprach Cebes.
Was die natürlichen Kräfte also itzt hervorbringen, mein Lieber! daran haben sie schon von je her gearbeitet; denn sie waren niemals müßig, nur daß ihre Wirkung erst nach und nach sichtbar geworden. Die Kraft der Natur z. B. die die Tageszeiten verändert, arbeitet schon itzt daran, nach einiger Zeit die Nacht auf den Horizont zu führen, aber sie nimmt ihren Weg durch Mittag und Abend, welches die Uebergänge sind von der Geburt des Tages bis auf seinen Tod.
Richtig.
Im Schlafe selbst arbeiten die Lebenskräfte schon an der künftigen Erwachung, so wie sie im wachenden Zustande den künftigen Schlaf vorbereiten.
Dieses ist nicht zu leugnen.
Und überhaupt, wenn ein Zustand natürlicher Weise auf sein Widerspiel erfolgen soll, wie solches bey allen natürlichen Veränderungen geschiehet: so müssen die stets wirksamen Kräfte der Natur schon vorher an dieser Veränderung gearbeitet, und den vorhergehenden Zustand gleichsam mit dem zukünftigen beschwängert haben. Folgt nicht hieraus, daß die Natur alle mittlern Zustände mitnehmen muß, wenn sie einen Zustand mit seinem Widerspiel ablösen will?
Ganz unleugbar.
Ueberlege es wohl, mein Freund! damit hernach kein Zweifel entstehe, ob nicht Anfangs zu viel nachgegeben worden. Wir erfodern zu jeder natürlichen Veränderung dreyerley: einen vorhergehenden Zustand des Dinges, das verändert werden soll, einen darauf folgenden, der jenem entgegen gesetzt ist, und einen Uebergang, oder die zwischen beiden liegenden Zustände, die der Natur von einem auf den andern