Ausgewählte philosophische Werke von Moses Mendelssohn. Moses Mendelssohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Moses Mendelssohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207183
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      Es scheinet nicht, versetzte Cebes.

      Unmöglich, mein Werthester! erwiederte Sokrates, wenn das wahr ist, worüber wir einig geworden: denn giebt es wohl ein Mittel zwischen Seyn und Nichtseyn?

      Keinesweges.

      Seyn und Nichtseyn wären also zween Zustände, die unmittelbar aufeinander folgen, die sich einander die nächsten seyn müßten: wir haben aber gesehen, daß die Natur keine solche Veränderungen, die plötzlich und ohne Uebergang geschehen, hervorbringen kann. Erinnerst du dich wohl noch dieses Satzes?

      Sehr wohl, sprach Cebes.

      Also kann die Natur weder ein Daseyn noch eine Zernichtung hervorbringen?

      Richtig!

      Daher gehet bey der Auflösung des thierischen Leibes nichts verloren. Die zerfallenen Theile fahren fort zu seyn, zu wirken, zu leiden, zusammen gesetzt und getrennt zu werden, bis sie sich durch unendliche Uebergänge in Theile eines andern Zusammengesetzten verwandeln. Manches wird Staub, manches wird zur Feuchtigkeit, dieses steigt in die Luft, jenes geht in eine Pflanze über, wandelt von der Pflanze in ein lebendiges Thier, und verläßt das Thier, um einem Wurme zur Nahrung zu dienen. Ist dieses nicht der Erfahrung gemäß?

      Vollkommen, mein Sokrates! antworteten Cebes und Simmias zugleich.

      Wir sehen also, meine Freunde! daß Tod und Leben, in so weit sie den Leib angehen, in der Natur nicht so getrennt sind, als sie unsern Sinnen scheinen. Sie sind Glieder einer stetigen Reihe von Veränderungen, die durch stufenweise Uebergänge mit einander auf das genaueste verbunden sind. Es giebt keinen Augenblick, da man, nach aller Strenge, sagen könnte: Itzt stirbt das Thier; so wenig man, nach aller Strenge, sagen kann: Itzt ward es krank, oder itzt ward es wieder gesund. Freylich müssen die Veränderungen unsern Sinnen wie getrennt scheinen, da sie uns nicht eher, als nach einer geraumen Zwischenzeit merkbar werden; aber genug, wir wissen, daß sie es in der That nicht seyn können.

      Ich besinne mich itzt auf ein Beyspiel, das diesen Satz erläutern wird. Unsere Augen, die auf einen gewissen Erdstrich eingeschränkt sind, unterscheiden gar deutlich Morgen, Mittag, Abend und Mitternacht, und es ist uns, als wenn diese Zeitpunkte von den übrigen getrennt und abgesondert wären. Wer aber den ganzen Erdboden betrachtet, erkennet gar deutlich, daß die Umwälzungen von Tag und Nacht stetig aneinander hangen, und also jeder Augenblick der Zeit Morgen und Abend, Mittag und Mitternacht zugleich sey.

      Homer hat nur, als Dichter, die Freyheit, seiner Götter Verrichtungen nach den Tageszeiten einzutheilen: als ob jemanden, der nicht in einen engen Bezirk auf dem Erdboden eingeschränkt ist, die Tageszeiten noch wirklich getrennte Epochen wären, und es nicht vielmehr zu jeder Zeit so wohl Morgen als Abend wäre. Es ist den Dichtern erlaubt dieses anzunehmen; allein der Wahrheit zu Folge, müßte Aurora mit ihren Rosenfingern beständig die Thore des Himmels offen halten, und ihren gelben Mantel unaufhörlich von einem Orte zum andern schleppen, so wie die Götter, wenn sie nur des Nachts schlafen wollen, gar nicht oder beständig schlafen müssen. –

      So lassen sich auch, im Ganzen betrachtet, die Tage der Woche nicht unterscheiden; denn das Stetige und Aneinanderhängende läßt sich nur in der Einbildung, und nach den Vorspiegelungen der Sinne, in bestimmte und abgesonderte Theile zertrennen; der Verstand aber siehet gar wohl, daß man da nicht stehen bleiben muß, wo keine wirkliche Abtheilung ist. Ist dieses deutlich, meine Freunde?

      Gar sehr, erwiederte Simmias. –

      Mit dem Leben und Tode der Thiere und Pflanzen verhält es sich gleichfalls nicht anders. In der Folge von Veränderungen, die dasselbe Ding erlitten, fängt sich, nach dem Urtheile unserer Sinne, da eine Epoche an, wo uns das Ding merklich als Pflanze oder als Thier in die Sinne gefallen, und dieses nennen wir das Aufkeimen der Pflanze, und die Geburt des Thieres. Den zweyten Zeitpunkt, da, wo sich die thierischen oder pflanzigten Bewegungen unsern Sinnen entziehen, nennen wir den Tod; und den dritten, wann endlich die thierischen oder pflanzigten Formen verschwinden und unscheinbar werden, nennen wir den Untergang, die Verwesung des Thieres oder der Pflanze. In der Natur aber sind alle diese Veränderungen Glieder einer ununterbrochenen Kette, allmählige Auswickelungen und Einwickelungen desselben Dinges, das sich in unzählige Gestalten einhüllet und entkleidet. Ist hieran noch irgend ein Zweifel?

      Es scheinet nicht, versetzte Cebes.

      Wenn wir sagen, fuhr Sokrates fort, die Seele stirbt, so müssen wir eines von beiden setzen: Entweder alle ihre Kräfte und Vermögen ihre Wirkungen und Leiden hören plötzlich auf, sie verschwindet gleichsam in einem Nu; oder sie leidet, wie der Leib, allmählige Verwandelungen, unzählige Umkleidungen, die in einer stetigen Reihe fortgehen, und in dieser Reihe giebt es eine Epoche, wo sie keine menschliche Seele mehr, sondern etwas anders geworden ist, so wie der Leib, nach unzähligen Veränderungen, aufhöret ein menschlicher Leib zu seyn, und Staub, Luft, Pflanze, oder auch ein Theil eines andern Thieres wird. Giebt es einen dritten Fall, wie die Seele sterben kann, einen Fall mehr, als plötzlich oder allmählig?

      Nein, erwiederte Cebes. Diese Eintheilung erschöpft die Möglichkeit ganz.

      Gut, sprach Sokrates. Die also noch zweifeln, ob die Seele nicht sterblich seyn könnte, mögen wählen, ob sie besorgen, sie möchte plötzlich verschwinden, oder nach und nach dasjenige aufhören zu seyn, was sie war.

      Will Cebes nicht ihre Steile vertreten, und diese Wahl über sich nehmen?

      Die Frage ist, ob jene die Wahl ihres Sachwalters würden gelten lassen. Mein Rath wäre, wir überlegten beide Fälle; denn wenn sie auf meine Wahl Verzicht thäten, und sich anders erklären sollten: so dürfte morgen niemand mehr da seyn, der sie widerlegen kann.

      Mein lieber Cebes! versetzte Sokrates, Griechenland ist ein weitläuftiges Reich, und auch unter den Barbaren muß es viele geben, denen diese Untersuchung am Herzen liegt. – Doch es sey! laßt uns beide Fälle untersuchen. Der erste war: Vielleicht vergehet die Seele plötzlich, verschwindet in einem Nu. An und für sich ist diese Todesart möglich. Kann sie aber von der Natur hervorgebracht werden?

      Keinesweges: wenn das wahr ist, was wir vorhin zugegeben, daß die Natur keine Zernichtung hervorbringen könne. Und haben wir dieses nicht mit Recht zugegeben? fragte Sokrates. Zwischen Seyn und Nichtseyn ist eine entsetzliche Kluft, die von der allmählig wirkenden Natur der Dinge nicht übersprungen werden kann.

      Ganz recht, versetzte Cebes. Wie aber, wenn sie von einer übernatürlichen Macht, von einer Gottheit, zernichtet würde?

      O mein Theurester! rief Sokrates aus, wie glücklich, wie wohl versorgt sind wir, wenn wir nichts als die unmittelbare Hand des einzigen Wunderthäters zu fürchten haben! Was wir besorgten, war, ob die Natur unserer Seele nicht an und für sich selbst sterblich sey, und diese Besorgniß suchen wir durch Gründe zu vereiteln; ob aber Gott, der allgütige Schöpfer und Erhalter der Dinge, sie durch ein Wunderwerk zernichten werde? – nein, Cebes, laß uns lieber befürchten, die Sonne würde uns in Eis verwandeln, ehe wir von der selbstständigen Güte eine grundböse Handlung, die Zernichtung durch ein Wunderwerk, befürchten wollen. Ich bedachte es nicht, sprach Cebes, daß mein Einwurf bey nahe eine Lästerung sey. Die eine Todesart, die plötzliche Zernichtung, schreckt uns also nicht mehr, fuhr Sokrates fort; denn sie ist in der Natur unmöglich. Doch überlegt auch folgendes, meine Freunde. Gesetzt sie wäre nicht unmöglich, so ist die Frage: wann? zu welcher Zeit soll unsere Seele verschwinden? Vermuthlich zu der Zeit, da der Körper ihrer nicht mehr bedarf, in dem Augenblicke des Todes?

      Allem Ansehen nach.

      Nun haben wir aber gesehen, daß es keinen bestimmten Augenblick giebt, da man sagen kann, itzt stirbt das Thier. Die Auflösung der thierischen Maschine hat schon lange vorher ihren Anfang genommen, ehe noch ihre Wirkungen sichtbar