Freylich ein wirkliches, außer uns vorhandenes, schrankenloses Wesen, dem das Daseyn vorzugsweise zukommen muß, mein Sokrates!
Und die allerhöchste Güte, und die allerhöchste Weisheit? Sind diese auch etwas Wirkliches?
Beym Jupiter! ja! Es sind unzertrennliche Eigenschaften des allervollkommensten Wesens, ohne welche jenes nicht da seyn kann.
Wer hat uns aber dieses Wesen kennen gelehret? Mit den Augen des Leibes haben wir es doch nie gesehen?
Gewiß nicht!
Wir haben es auch nicht gehört, nicht gefühlt; kein äußerlicher Sinn hat uns je einen Begriff von Weisheit, Güte, Vollkommenheit, Schönheit, Denkungsvermögen, u. s. w. zugeführet, und dennoch wissen wir, daß diese Dinge außer uns wirklich sind, in dem allerhöchsten Grade wirklich sind. Kann uns niemand erklären, wie wir auf diese Begriffe gekommen sind?
Simmias sprach, die Stimme Jupiters, mein lieber Sokrates! Ich werde mich abermals auf dieselbe berufen.
Wie? meine Freunde! wenn wir in jenem Zimmer eine vortreffliche Flötenstimme höreten, würden wir nicht hinlaufen, den Flötenspieler zu kennen, der unser Ohr so sehr zu entzücken weiß?
Vielleicht jetzo nicht, lächelte Simmias, da wir hier die vortrefflichste Musik hören.
Wenn wir ein Gemälde betrachten. fuhr Sokrates fort, so wünschen wir, die Meisterhand zu kennen, die es verfertiget hat. Nun liegt in uns selbst, das allervortrefflichste Bild, das Götteraugen und Menschenaugen jemals gesehen, das Bild der allerhöchsten Vollkommenheit, Güte, Weisheit, Schönheit, u. s. w. und wir haben uns noch nie nach dem Maler erkundigte der diese Bilder hineingezeichnet?
Cebes erwiederte: Ich erinnere mich einst vom Philolaus eine Erklärung gehöret zu haben, die der Sache vielleicht Genüge tut.
Will Cebes seine Freunde, versetzte Sokrates, nicht an dieser Hinterlassenschaft des glückseligen Philolaus Theil nehmen lassen?
Wenn diese, sprach Cebes, die Erklärung nicht lieber von einem Sokrates hören möchten. Doch es sey! – Alle unkörperlichen Begriffe, sprach Philolaus, hat die Seele nicht von den äußern Sinnen, sondern durch sich selbst erlangt, indem sie ihre eigenen Wirkungen beobachtet, und dadurch ihr eigenes Wesen und ihre Eigenschaften kennen lernt. – Dieses deutlicher zu machen, habe ich ihn oft eine Erdichtung hinzusetzen hören: Laßt uns vom Homer, pflegte er zu sagen, die beiden Tonnen entlehnen, die in dem Vorsaale Jupiters liegen, aber zugleich uns die Freyheit ausbitten, sie nicht mit Glück und Unglück, sondern die zur Rechten mit wahrem Wesen, und die zur Linken mit Mangel und Unwesen anzufüllen. – So oft die Allmacht Jupiters einen Geist hervorbringen will, so schöpft er aus diesen beiden Tonnen, wirft einen Blick auf das ewige Schicksal, und bereitet, nach dessen Maßgebung, eine Mischung von Wesen und Mangel, welche die völlige Grundanlage des künftigen Geistes enthält. Daher findet sich zwischen allen Arten von geistigen Wesen eine verwundernswürdige Aehnlichkeit; denn sie sind alle aus eben den Tonnen geschöpft, und nur an der Mischung unterschieden. Wenn also unsere Seele, welche gleichfalls nichts anders ist, als eine solche Mischung von Wesen und Mangel, sich selbst beobachtet, so erlanget sie einen Begriff von dem Wesen der Geister und ihren Schranken, von Vermögen und Unvermögen, Vollkommenheit und Unvollkommenheit, von Verstand, Weisheit, Kraft, Absicht, Schönheit, Gerechtigkeit und tausend andern unkörperlichen Dingen, über welche sie die äußeren Sinne in der tiefsten Unwissenheit lassen würden.
Wie unvergleichlich! versetzte Sokrates. Siehe, Cebes! Du besitzest einen solchen Schatz, und wolltest mich sterben lassen; ohne mir denselben einmal zu zeigen! – Doch laß sehen, wie wir ihn noch vor dem Tode genießen wollen. Philolaus sagte also: Die Seele erkennet ihre Nebengeister, indem sie sich selbst beobachtet. Nicht?
Ja!
Und sie erlanget Begriffe von unkörperlichen Dingen, indem sie ihre eigenen Fähigkeiten auseinander setzt, und jeder, um sie deutlicher unterscheiden zu können, einen besondern Namen giebt?
Allerdings.
Wenn sie aber ein höheres Wesen, als sie selbst ist, einen Dämon z. B. sich denken will, wer wird ihr die Begriffe dazu hergeben?
Cebes schwieg, und Sokrates fuhr fort: Habe ich die Meynung des Philolaus anders recht begriffen, so kann sich die Seele zwar niemals von einem höhern Wesen, als sie selbst ist, oder nur von einer höhern Fähigkeit, als sie selbst besitzet, einen der Sache gemäßen Begriff machen; allein sie kann gar wohl überhaupt die Möglichkeit eines Dinges begreifen, dem mehr Wesen und weniger Mängel zu Theile worden, als ihr selbst, das heißt, welches vollkommener ist, als sie; oder hast du es vielleicht vom Philolaus anders gehört?
Nein!
Und von dem allerhöchsten Wesen, von der allerhöchsten Vollkommenheit hat sie auch nicht mehr, als diesen Schimmer einer Vorstellung. Sie kann das Wesen desselben nicht in seinem ganzen Umfange begreifen; aber sie denkt ihr eigenes Wesen, das, was sie Wahres, Gutes, und Vollkommenes hat, trennet es in Gedanken von dem Mangel und Unwesen, mit welchem es in ihr vermischt ist, und geräth dadurch auf den Begriff eines Dinges, das lauter Wesen, lauter Wahrheit, lauter Güte und Vollkommenheit ist. –
Appollodorus, der bisher alle Worte des Sokrates leise nachgesprochen hatte, gerieth hier in Entzückung und wiederholte laut: das lauter Wesen, lauter Wahrheit, lauter Güte, lauter Vollkommenheit ist.
Und Sokrates fuhr fort: Sehet ihr, meine Freunde! wie weit sich der Weisheitliebende von den Sinnen und ihren Gegenständen entfernen muß, wenn er das begreifen will, was zu begreifen wahre Glückseligkeit ist, das allerhöchste und vollkommenste Wesen? In dieser Gedankenjagdt muß er Augen und Ohren verschließen, Schmerz und Sinnenlust ferne von seiner Achtsamkeit seyn lassen, und wenn es möglich wäre, seines Leibes ganz vergessen, um desto einsamer sich ganz auf seine Seelenvermögen und ihre innere Wirksamkeit einzuschränken.
Der Leib ist seinem Verstande bey dieser Untersuchung nicht nur ein unnützlicher, sondern auch ein beschwerlicher Gesellschafter: denn jetzt sucht er weder Farbe noch Größe, weder Töne noch Bewegung, sondern ein Ding, das alle möglichen Farben, Größen, Töne und Bewegungen, und, was noch weit mehr ist, alle möglichen Geister sich aufs deutlichste vorstellet, und in allen ersinnlichen Ordnungen hervorbringen kann. Welch ein unbehülflicher Gefährte ist der Körper auf dieser Reise?
Wie erhaben! rief Simmias, aber auch wie wahr!
Die wahren Weltweisen, sprach Sokrates, die diese Gründe in Erwägung ziehen, können nicht anders, als diese Meynung hegen, und einer zum andern sprechen: Siehe! hier ist ein Irrweg, der uns immer vom Ziele weiter weg führet, und alle unsere Hoffnungen vereitelt. Wir sind versichert. daß die Erkenntniß der Wahrheit unser einziger Wunsch sey. Aber so lange wir uns hier auf Erden mit dem Leibe schleppen; so lange unsere Seele noch mit dieser irrdischen Seuche behaftet ist, können wir uns unmöglich schmeicheln, diesen Wunsch ganz erfüllt zu sehen. Wir sollen die Wahrheit suchen. Leider! läßt uns der Körper wenig Muße zu dieser wichtigen Unternehmung. Heute fodert sein Unterhalt unsere ganze Sorge; morgen fechten ihn Krankheiten an, die uns abermals stören; so dann folgen andere Leibesangelegenheiten, Liebe, Furcht, Begierden, Wünsche, Grillen und Thorheiten, die uns unaufhörlich zerstreuen, die unsere Sinnen von einer Eitelkeit zur andern locken, und uns nach dem wahren Gegenstande unserer Wünsche, nach der Weisheit, vergebens schmachten lassen. Wer erregt Krieg, Aufruhr, Streit und Uneinigkeit unter den Menschen? wer anders, als der Körper, und seine unersättlichen Begierden? Denn die Habsucht ist die Mutter aller Unruhen, und unsere Seele würde niemals nach eigenthümlichen Gütern geizen, wenn sie nicht für die hungrigen Begierden ihres Leibes zu sorgen hätte. Solchergestalt sind wir die meiste Zeit beschäfftiget, und haben selten Muße zur Weltweisheit. Endlich, erzielet