Lange Schatten. Louise Penny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Gamache
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701279
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aussah. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass schon jemand wach ist. Zum Arbeiten ist das die beste Zeit. Ich gehöre zu den Gärtnern.«

      Sie wechselte ins Französische, das sie fließend mit einem winzigen Akzent sprach. Der leichte Wind trug den Duft von etwas Süßem, Chemischem, Vertrautem zu ihnen. Insektenspray. Die junge Frau musste darin gebadet haben. Die Gerüche des Québecer Sommers. Rasenschnitt und Insektenspray.

      Gamache und Reine-Marie sahen zu Boden und entdeckten frisch gegrabene Löcher. Die Augen der jungen Frau folgten ihrem Blick.

      »Ich will sie setzen, bevor es zu heiß wird.« Sie deutete auf ein paar welke Pflänzchen. »Aus irgendeinem Grund sterben alle Pflanzen in diesem Beet.«

      »Was ist denn das?«, fragte Reine-Marie, die sich von den Löchern abgewandt hatte.

      »Genau das wollte ich dir gerade zeigen«, sagte Gamache.

      Seitlich von ihnen und halb hinter dem Gebüsch verborgen stand der große Marmorblock. Jetzt konnte er wenigstens jemanden danach fragen.

      »Keine Ahnung«, antwortete die Gärtnerin. »Der ist vor ein paar Tagen mit einem riesigen Laster gebracht worden.«

      »Aus was ist er denn?« Reine-Marie berührte ihn.

      »Marmor«, sagte die Gärtnerin und stellte sich neben sie.

      »Da stehen wir also«, sagte Reine-Marie schließlich, »umgeben von Wäldern und Seen im Garten des Manoir und«, dabei nahm sie die Hand ihres Mannes, »staunen das einzige widernatürliche Ding weit und breit an.«

      Er lachte. »Ja, so ist das.«

      Sie nickten der Gärtnerin zu und verschwanden im Manoir, um sich fürs Frühstück umzuziehen. Gamache fand es interessant, dass Reine-Marie genauso wie er den Abend zuvor auf den Marmorblock reagiert hatte. Was es auch war, es war widernatürlich.

      Die Terrasse lag zu dieser Stunde im Schatten, und es war noch nicht so sengend heiß; zu Mittag würden die Steinplatten dann glühen. Reine-Marie und Gamache trugen beide ihre Sonnenhüte.

      Elliot servierte ihnen ihren Café au Lait und das Frühstück. Reine-Marie goss Ahornsirup, der hier aus der Gegend stammte, auf ihr Crêpe mit wilden Heidelbeeren, und Gamache stach in seine Eier Benedict und sah zu, wie das Eigelb in die Sauce hollandaise floss. Mittlerweile füllte sich die Terrasse mit Finneys.

      »Es ist nicht so wichtig«, hörten sie hinter sich eine Stimme, »aber wenn wir den Tisch unter dem Ahornbaum haben könnten, wäre das sehr schön.«

      »Ich glaube, der ist schon besetzt, Madame«, sagte Pierre.

      »Ach ja? Tja, da kann man wohl nichts machen.«

      Bert Finney war schon unten und auch Bean. Sie lasen beide Zeitung. Bert studierte den Cartoon, Bean die Todesanzeigen.

      »Du wirkst besorgt, Bean«, sagte der alte Mann und ließ die Zeitung sinken.

      »Ist dir schon mal aufgefallen, dass offenbar mehr Leute sterben als geboren werden?«, fragte Bean und reichte Finney ihren Teil der Zeitung, der ihn nahm, betrachtete und mit ernster Miene nickte.

      »Das bedeutet, dass wir Übrigen mehr bekommen.« Er gab ihr den Teil zurück.

      »Ich will aber gar nicht mehr haben«, sagte Bean.

      »Wart’s nur ab.« Und Finney widmete sich wieder dem Comic.

      »Armand.« Reine-Marie berührte sanft seinen Arm. Dann senkte sie die Stimme zu einem kaum vernehmbaren Flüstern. »Ist Bean eigentlich ein Junge oder ein Mädchen?«

      Gamache, der sich das selbst schon gefragt hatte, sah noch einmal hin. Das Kind trug eine billige Brille, zumindest sah sie billig aus, und die Haare um sein hübsches, gebräuntes Gesicht reichten ihm bis an die Schultern.

      Er schüttelte den Kopf.

      »Das ist wie bei Florence«, sagte er. »Bei ihrem letzten Besuch bin ich mit ihr den Boulevard Laurier entlangspaziert, und alle haben unseren hübschen Enkelsohn bewundert.«

      »Trug sie ihren Sonnenhut?«

      »Ja.«

      »Und haben die Leute auch die Ähnlichkeit zwischen euch bewundert?«

      »Ja, stimmt, das haben sie.« Gamache bedachte sie mit einem anerkennenden Blick, so als wäre sie ein Genie.

      »Komisch, was?«, sagte sie. »Allerdings ist Florence gerade mal ein Jahr. Für wie alt schätzt du Bean?«

      »Schwer zu sagen. Neun, zehn? Kinder wirken immer älter, wenn sie Todesanzeigen lesen.«

      »Das muss ich mir merken. Todesanzeigen machen älter.«

      »Noch etwas Konfitüre?« Pierre tauschte ihre fast leer gegessenen Schüsselchen gegen frische aus, die mit hausgemachter Konfitüre aus Walderdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren gefüllt waren. »Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«, fragte er.

      »Nein, danke, aber ich hätte eine Frage«, sagte Gamache und deutete mit seinem Croissant auf die Ecke des Manoir. »Da hinten steht ein Marmorblock. Können Sie mir vielleicht sagen, wozu er da ist, Pierre?«

      »Ah, dann haben Sie ihn also bemerkt.«

      »Der wäre selbst vom Weltall aus kaum zu übersehen.«

      Pierre nickte. »Madame Dubois klärte Sie also nicht auf, als Sie eingecheckt haben?«

      Reine-Marie und Gamache wechselten einen Blick und schüttelten den Kopf.

      »Nun.« Der Maître d’ machte den Eindruck, als wäre ihm die Sache etwas peinlich. »Ich fürchte, Sie werden sie selbst fragen müssen. Es ist eine Überraschung.«

      »Hoffentlich eine schöne Überraschung«, sagte Reine-Marie.

      Pierre überlegte kurz. »Das wissen wir noch nicht. Aber es wird sich bald zeigen.«

      5

      Nach dem Frühstück rief Gamache bei seinem Sohn in Paris an und hinterließ auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht mit der Nummer des Manoir. So tief in den Wäldern gab es keinen Handyempfang.

      Der Tag plätscherte angenehm dahin, die Temperatur stieg langsam, aber stetig, bis sie irgendwann merkten, dass es richtig heiß war. Das Hotelpersonal schleppte Liegestühle durch den Garten und stellte sie für die schwitzenden Gäste an schattigen Plätzen auf.

      »Spot!«

      Der Ruf zerriss die schwüle Mittagsstille und ließ Gamache zusammenzucken.

      »Spot!«

      »Seltsam«, sagte Reine-Marie und nahm die Sonnenbrille ab, um ihren Mann anzusehen, »das klingt genauso, als würde jemand ›Feuer!‹ schreien.«

      Gamache legte einen Finger zwischen die Seiten seines Buchs und blickte in die Richtung, aus der der Ruf kam. Er war neugierig, wie dieser »Spot« aussehen mochte. Wie ein Dalmatiner? Gefleckt?

      Thomas Morrow rief noch einmal »Spot!« und steuerte über den Rasen auf einen gut gekleideten großen Mann mit grauen Haaren zu. Gamache nahm seine Sonnenbrille ab und sah genauer hin.

      »Das heißt wohl, dass es mit der Ruhe und dem Frieden vorbei ist«, sagte Reine-Marie mit Bedauern. »Der widerwärtige Spot und sein grässliches Weib Claire sind eingetroffen.«

      Gamache setzte die Brille wieder auf und blinzelte angestrengt, er war sich nicht sicher, ob er seinen Augen trauen sollte.

      »Was ist?«, fragte Reine-Marie.

      »Das errätst du nie.«

      Die beiden Männer traten auf dem Rasen des Manoir Bellechasse aufeinander zu. Der distinguierte Thomas und sein jüngerer Bruder Spot.

      Reine-Marie sah hinüber. »Aber das ist doch …«

      »Ja, das glaube ich auch«, sagte Gamache.

      »Und