»Geht’s dir besser?«, flüsterte Reine-Marie.
»Viel besser«, sagte Gamache wahrheitsgemäß, nahm das von ihren Händen erwärmte Glas und folgte ihr zum Sofa.
»Wie wäre es nachher mit einer Runde Bridge?« Thomas unterbrach sein Klavierspiel und gesellte sich zu den Gamaches.
»Wunderbar, gute Idee«, sagte Reine-Marie. Sie hatten auch die letzten Abende mit Thomas und Sandra Bridge gespielt. Es war eine angenehme Art, den Tag ausklingen zu lassen.
»Na, Rosen gefunden?«, fragte Thomas Julia, als er zurück zu seiner Frau ging. Sandra ließ ein Lachen wie eine Maschinengewehrsalve los, so als hätte er etwas unglaublich Kluges und Witziges von sich gegeben.
»Du meinst wohl ein paar Eleanor-Rosen?«, fragte Mariana höchst belustigt vom Fenster her, wo sie mit Bean saß. »Die magst du doch am liebsten, oder, Julia?«
»Ich finde eigentlich, dass sie zu dir besser passen würden.« Julia lächelte.
Mariana erwiderte das Lächeln und stellte sich dabei vor, wie einer der Holzbalken sich löste und ihre ältere Schwester unter sich begrub. Es war doch längst nicht so lustig, dass sie wieder dabei war, wie Mariana gehofft hatte. Ganz im Gegenteil sogar. »Zeit, ins Bett zu gehen, mein Beanchen«, sagte Mariana und legte ihren fleischigen Arm um das lesende Kind. Bean war das ruhigste zehnjährige Kind, das Gamache kannte, schien dabei aber ganz zufrieden zu sein. Als das Kind an ihm vorbeiging, sah er ihm in die strahlend blauen Augen.
»Was liest du denn da?«, fragte Gamache.
Bean blieb stehen und blickte den großen fremden Mann an. Sie waren zwar schon drei Tage zusammen im Manoir, hatten aber noch kein Wort miteinander gewechselt.
»Nichts.« Gamache bemerkte, wie die kleinen Hände sich fester um das Buch schlossen und es gegen die Brust pressten, sodass das weite T-Shirt sich nach oben schob. Durch die dünnen, gebräunten Finger konnte Gamache ein Wort des Titels entziffern.
Sagen.
»Komm schon, Schnecke. Ab ins Bett. Mommy will sich endlich betrinken, und das kann sie erst, wenn du schläfst, das weißt du genau.«
Bean lächelte unvermittelt, ohne dabei den Blick von Gamache zu wenden. »Einen letzten Martini, Mommy? Bitte, bitte«, sagte Bean, bevor sie den Raum verließen.
»Du weißt genau, dass du mit dem Martini noch warten musst, bis du zwölf bist. Entweder Scotch oder gar nichts«, hörten sie Mariana sagen, dann nur noch Schritte auf der Treppe.
»Ich bin mir nicht immer ganz sicher, ob sie Spaß macht«, sagte Madame Finney.
Gamache warf ihr ein Lächeln zu, aber es verging ihm, als er ihre strenge Miene sah.
»Warum lässt du dich nur immer von ihm ärgern, Pierre?«
Die Köchin verteilte handgemachte Trüffel und kandierte Früchte mit Schokoladenüberzug auf kleinen Tellern. Ihre wurstförmigen Finger ordneten das Konfekt wie von selbst an. Sie nahm einen Minzezweig aus dem Glas, schüttelte das Wasser ab und knipste mit den Nägeln ein paar Blätter weg. Gedankenverloren wählte sie dann noch einige essbare Blüten aus einer Vase, und schon war aus ein paar Konfektstücken ein kleines Kunstwerk entstanden. Sie streckte den Rücken und blickte den Maître d’ an.
Seit Jahren arbeiteten sie zusammen. Nein, seit Jahrzehnten. Sie fand es erstaunlich, dass sie bereits über sechzig war, und sie wusste, dass sie keinen Tag jünger aussah, was hier in den Wäldern allerdings egal war.
Sie hatte Pierre kaum jemals wegen eines seiner jungen Helfer so aufgebracht gesehen. Sie für ihren Teil mochte Elliot. Wie alle anderen auch, soweit sie wusste. War der Maître d’ deshalb so wütend? Weil er eifersüchtig war?
Einen Moment sah sie dabei zu, wie seine schmalen Hände das Tablett vorbereiteten.
Nein, dachte sie. Es war nicht Eifersucht. Es war etwas anderes.
»Er will einfach nicht hören«, sagte Pierre, schob das Tablett zur Seite und setzte sich gegenüber von Veronique hin. Sie waren jetzt allein in der Küche. Der Abwasch war erledigt, das Geschirr aufgeräumt, die Arbeitsflächen geschrubbt. Es roch nach Espresso und Minze und Früchten. »Er ist hergekommen, um etwas zu lernen, und dann will er nicht hören. Ich verstehe das nicht.« Er zog den Korken aus der Cognacflasche und goss zwei Gläser ein.
»Er ist jung. Er ist das erste Mal von zu Hause weg. Und du machst es nur schlimmer, wenn du solchen Druck auf ihn ausübst. Lass ihn einfach in Ruhe.«
Pierre nippte an dem Cognac und nickte. Die Köchin wirkte beruhigend auf ihn, auch wenn sie den Neuankömmlingen am Anfang immer eine Heidenangst einjagte, wie er wusste. Sie war groß und kräftig, ihr Gesicht rund wie ein Kürbis, und ihre Stimme klang wie eine Gießkanne. Und sie hatte Messer. Eine Menge Messer. Und ein Hackbeil und schmiedeeiserne Pfannen.
Verständlicherweise dachten einige der neuen Mitarbeiter, die sie zum ersten Mal sahen, dass sie auf der Schotterstraße eine falsche Abzweigung in den Wald genommen hatten und in einer Holzfällersiedlung statt in dem schicken Manoir Bellechasse gelandet waren. Véronique sah aus wie die Küchenhilfe in einer schlechten Kantine.
»Er muss wissen, wer hier das Sagen hat«, sagte Pierre.
»Das tut er doch auch. Es passt ihm nur nicht.«
Der Maître d’ hatte einen harten Tag hinter sich, das war unverkennbar. Deshalb nahm sie den größten Trüffel von dem Tablett und reichte ihn ihm.
Geistesabwesend steckte er ihn in den Mund.
»Ich habe erst in fortgeschrittenem Alter Französisch gelernt«, erklärte Mrs. Finney und musterte die Karten ihres Sohnes.
Sie hatten sich in die Bibliothek zurückgezogen und waren zu Französisch gewechselt, und die alte Frau umrundete den Kartentisch und sah sich jedes Blatt genau an. Gelegentlich streckte sie einen ihrer verkrümmten Finger aus und tippte auf eine Karte. Die ersten Abende hatte sie nur ihrem Sohn und seiner Frau geholfen, aber heute ließ sie auch die Gamaches ihres Beistands teilhaftig werden. Es war ein Spiel in aller Freundschaft, und die Einmischung schien niemanden zu stören, als Allerletztes Armand Gamache, der die Unterstützung gut brauchen konnte.
Die Wände waren von Regalen gesäumt, unterbrochen nur von dem Kamin, der aus großen Flusssteinen gemauert war, und den Terrassentüren, die in die Dunkelheit hinaussahen. Sie standen weit offen, um die leider allzu leichte Brise hereinzulassen, die der heiße Québecer Sommerabend zu bieten hatte. Was sie dagegen in Hülle und Fülle hereinließen, war das Trillern und Rufen aus dem Wald.
Alte Perserteppiche bedeckten den Parkettboden, und bequeme Sessel und Sofas waren für trauliche Gespräche oder gemütliche Lektürestunden zu Grüppchen aufgestellt. Dazwischen verteilt standen schöne Blumensträuße. Das Manoir Bellechasse schaffte den Spagat zwischen rustikal und raffiniert. Außen grob behauene Baumstämme, innen feines Kristall.
»Sie leben in Québec?« Reine-Marie sprach langsam und deutlich.
»Ich bin in Montréal geboren, lebe inzwischen aber in Toronto. Näher bei meinen Freunden. Die meisten haben Québec vor Jahren verlassen, aber ich bin geblieben. Damals brauchte kein Mensch Französisch. Nur so viel, dass man den Hausmädchen Anweisungen geben konnte.«
Mrs. Finney sprach fließend Französisch, hatte aber einen starken Akzent.
»Mutter.« Thomas wurde rot.
»Ich erinnere mich noch gut an die Zeit«, sagte Reine-Marie. »Meine Mutter war als Putzfrau beschäftigt.«
Mrs. Finney und Reine-Marie plauderten über schwere Arbeit und Kindererziehung, über die stille Revolution in den Sechzigerjahren, als die Québecer schließlich maîtres chez nous wurden. Herren im eigenen Haus.
»Wobei meine Mutter auch später noch die Häuser der Engländer in Westmount putzen ging«, sagte Reine-Marie und steckte ihre Karten in die richtige Reihenfolge. »Eins ohne.«
Madame