Um die Ecke des Manoir bog eine etwas derangiert aussehende Frau mit fliegenden Haaren, auf denen ein zerknautschter Sonnenhut thronte.
»Clara?«, flüsterte Reine-Marie Gamache zu. »Mein Gott, Armand, Spot und Claire Finney sind Peter und Clara Morrow. Das grenzt ja an ein Wunder.« Sie strahlte vor Freude. Die Neuankömmlinge, denen sie mit Grausen entgegengesehen hatte, entpuppten sich als ihre Freunde.
Jetzt begrüßte Sandra Peter, und Thomas umarmte Clara. Im Vergleich zu ihm war sie winzig und verschwand fast in seinen Armen, und als er sie wieder losließ, wirkte sie noch zerzauster.
»Du siehst richtig gut aus«, sagte Sandra, während sie Clara musterte und mit Befriedigung feststellte, dass diese an Hüften und Oberschenkeln ziemlich zugelegt hatte. Und unvorteilhaft gestreifte Shorts zu einem getupften Oberteil trug. Und so was nennt sich Künstlerin, dachte Sandra und fühlte sich gleich viel besser.
»Es geht mir auch gut. Sag mal, hast du abgenommen? Du musst mir unbedingt verraten, wie du das geschafft hast, Sandra. Ich würde wirklich gern zehn Pfund loswerden.«
»Du?«, rief Sandra. »Das hast du doch überhaupt nicht nötig.«
Die beiden Frauen entfernten sich Arm in Arm aus Gamaches Hörweite.
»Peter«, sagte Thomas.
»Thomas«, sagte Peter.
Sie nickten einander steif zu.
»Geht’s gut?«
»Könnte nicht besser sein.«
Sie sprachen Telegrammstil, kein Wort zu viel.
»Und selbst?«
»Hervorragend.«
Ihre Sprache beschränkte sich aufs Wesentliche. Über kurz oder lang wären nur noch Konsonanten übrig. Und danach kam Schweigen.
Gamache beobachtete sie von seinem schattigen Platz aus. Er wusste, dass er sich freuen sollte, seine Freunde hier zu sehen, und das tat er auch. Doch gleichzeitig stellte er fest, dass sich die Haare auf seinen Armen aufgerichtet hatten, und er spürte es in seinem Nacken kribbeln.
An diesem strahlenden, heißen Sommertag, an diesem idyllischen, friedlichen Ort war nicht alles so, wie es schien.
Clara ging zu der steinernen Brüstung der Terrasse, in der Hand ein Bier und ein Tomatensandwich, von dem unbemerkt Tomatenkerne auf ihre neue Baumwollbluse tropften. Sie versuchte, sich im Schatten zu verbergen, was nicht besonders schwierig war, da Peters Familie ihr sowieso kaum Beachtung schenkte. Sie war nichts weiter als die Schwiegertochter und Schwägerin. Am Anfang hatte sie sich darüber geärgert, aber inzwischen war sie froh.
Sie blickte auf die Staudenbeete und stellte fest, dass sie nur die Augen zusammenkneifen musste, und schon konnte sie so tun, als wäre sie zu Hause in Three Pines. So weit weg war das kleine Dorf ja auch gar nicht. Gleich hinter der nächsten Bergkette. Im Augenblick kam es ihr jedoch sehr weit weg vor.
Zu Hause schenkte sie sich im Sommer morgens immer eine Tasse Kaffee ein und ging barfuß hinunter zu dem Flüsschen Bella Bella hinter ihrem Haus, begleitet vom Duft von Rosen, Phlox und Lilien. Sie setzte sich in der milden Morgensonne auf eine Bank, trank ihren Kaffee und versank in den Anblick des gemächlich dahinfließenden Wassers, dessen Oberfläche im Sonnenschein golden und silbern glitzerte. Anschließend ging sie ins Atelier und malte bis zum Nachmittag. Dann holten Peter und sie sich jeder ein Bier und spazierten durch den Garten, oder sie trafen sich mit Freunden auf ein Glas Wein im Bistro. Es war ein ruhiges, beschauliches Leben. Genau, wie es ihnen gefiel.
Vor einigen Wochen war sie wie gewöhnlich zum Briefkasten geschlendert, um nach der Post zu sehen. Und da hatte sie die gefürchtete Einladung vorgefunden. Die rostige Klappe hatte beim Öffnen gequietscht, und schon als sie die Hand hineinsteckte, hatte sie gewusst, was es war. Sie spürte das dicke Papier des Umschlags zwischen ihren Fingern. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn einfach wegzuwerfen, ihn in die blaue Papiertonne zu stopfen, damit man etwas Nützliches daraus machte, Klopapier zum Beispiel. Aber sie hatte es nicht getan. Stattdessen hatte sie die krakelige Schrift angestarrt, das unheilverkündende Gekritzel, das ein Gefühl bei ihr hervorrief, als würden Tausende von Ameisen über ihren Körper krabbeln, bis sie es nicht länger aushielt und den Umschlag aufriss. Es war die Einladung zum Familientreffen im Manoir Bellechasse Ende Juni. Einen Monat früher als sonst und genau zu der Zeit, zu der man in Three Pines die Fähnchen zur Feier von Saint-Jean-Baptiste abnahm und sich auf das alljährlich am ersten Juli auf dem Dorfanger stattfindende Fest zum kanadischen Nationalfeiertag vorbereitete. Es war der denkbar ungünstigste Termin, und sie war schwer in Versuchung, sich davor zu drücken, doch dann fiel ihr ein, dass sie in diesem Jahr an der Reihe war, die Spiele für die Kinder zu organisieren. Clara, die mit Kindern gut zurechtkam, solange sie sich vorstellte, sie wären junge Hunde, steckte plötzlich in der Zwickmühle und beschloss, die Entscheidung Peter zu überlassen. Aber da war noch etwas an dieser Einladung. Irgendetwas würde geschehen, während sie alle dort versammelt waren. Als Peter an diesem Nachmittag aus seinem Atelier gekommen war, hatte sie ihm den Umschlag gegeben und dabei sein schönes Gesicht beobachtet. Dieses Gesicht, das sie liebte, diesen Mann, den sie beschützen wollte. Was ihr meistens auch gelang. Aber nicht bei seiner Familie. Die griff von innen heraus an, und da konnte sie ihm nicht helfen. Sie sah seinen Gesichtsausdruck, zunächst verständnislos, doch dann begriff er.
Es würde schrecklich werden. Dennoch hatte er zu ihrer Überraschung zum Telefon gegriffen, seine Mutter angerufen und die entsetzliche Einladung angenommen.
Das war einige Wochen her, und jetzt war es plötzlich so weit.
Clara saß allein auf der Brüstung und betrachtete die anderen, wie sie in der grellen Sonne standen und Gin Tonic tranken. Keiner von ihnen trug einen Sonnenhut, lieber bekamen sie einen Hitzschlag oder Hautkrebs. Peter unterhielt sich mit seiner Mutter und beschirmte zum Schutz vor der Sonne die Augen mit der Hand, als wäre er mitten in einem militärischen Gruß erstarrt.
Während Thomas vornehm und elegant aussah, wirkte Sandra so, als sei sie in ständiger Alarmbereitschaft. Ihr Blick schoss hierhin und dorthin, beurteilte Essensportionen, beobachtete die hin und her eilenden Kellner, registrierte, wer wann was bekam, und verglich es mit dem, was ihr gebracht wurde.
Auf der anderen Seite der Terrasse, ebenfalls im Schatten, entdeckte Clara Bert Finney. Er schien seine Frau zu beobachten, was sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen ließ. Sie sah in dem Moment weg, als sein umherirrender Blick sie erfasste.
Clara trank einen Schluck von ihrem kalten Bier und packte dabei den dicken Haarschopf, der ihr schweißnass im Nacken klebte, hob ihn an und wedelte damit ein paarmal hin und her, um sich Kühlung zu verschaffen. Da bemerkte sie, dass Peters Mutter zu ihr hersah, das hübsche zartrosa überhauchte Gesicht von unzähligen Falten durchzogen, die hellblauen Augen nachdenklich und freundlich. Eine reizende englische Rose, die dazu verlockte, näher zu kommen, sich über sie zu beugen. Zu spät merkte man, dass sich tief zwischen den Blütenblättern eine Wespe versteckte und darauf wartete, das zu tun, was Wespen nun mal taten.
Nur noch vierundzwanzig Stunden, sagte sich Clara. Morgen nach dem Frühstück können wir wieder fahren.
Eine Bremse flog um ihren verschwitzten Kopf, und Clara wedelte so wild mit den Armen, dass sie den Rest ihres Sandwiches von der Brüstung in das darunter liegende Blumenbeet fegte. Die Gebete einer Ameise waren erhört worden, auch wenn die, auf der es landete, das anders sehen mochte.
»Claire hat sich überhaupt nicht verändert«, sagte Peters Mutter.
»Du auch nicht, Mutter.«
Peter bemühte sich um den gleichen höflichen Ton wie sie, und er fand, dass ihm die optimale Mischung aus Verbindlichkeit und Verachtung geglückt war. So subtil, dass sich niemand richtig auf den Schlips getreten fühlen konnte, so offensichtlich, dass es niemandem entging.
Auf der anderen Seite der Terrasse spürte Julia, wie ihre Füße in den dünnsohligen Sandalen auf den glühend heißen Steinfliesen zu schmoren anfingen.
»Hallo,